Radikaler Existenzskeptizismus oder Anti-Natalismus ist eine Gedankenbewegung – Philosophie scheint mir für das, was ich nachfolgend anrissweise betrachten möchte, zu viel gesagt, obwohl es auch eine entsprechende Philosophie gibt –, welche das Geborenwordensein oder Gebären infrage stellt. Es ist eine ungeheuerliche Infragestellung, da sie die Grundfeste unseres Existenzverständnisses anzweifelt: Sollten wir uns besser nicht mehr fortpflanzen, da die Geburt erste Ursache aller menschlichen Leiden ist? Ich möchte mich hier aber gar nicht wertend dazu positionieren und sehe diese Gedanken nur als Möglichkeit, die sich längst aktualisiert haben, da sie mir über viele Jahre immer wieder in der Literatur aus den verschiedensten geschichtlichen Epochen begegnet sind. Dieser krasse Existenzskeptizismus hat mir – so viel Positionierung sei dann doch gewagt – früher tatsächlich manchmal Trost spenden können. Neuerlich angeregt, darüber nachzudenken, hat mich Wolfgang Schadewaldt, der in einer seiner Tübinger Vorlesungen den fiktiven Wettstreit zwischen Hesiod und Homer zitiert, in welchem Homer die folgenden Worte spricht:
Zitat:
Nimmer geboren sein, wär sämtlichen Menschen das Beste!
Einmal geboren jedoch, alsbald zum Hades zu fahren!
Ein schauerliches wie wirkungsmächtiges Motiv, das im Lauf der Jahrhunderte immer wieder aufgenommen wird, sicherlich häufig als bewusste Abwandlung.
Etwa zur gleichen Zeit, auf welche man den Dichterwettstreit datiert, schreibt Sophokles in “Ödipus auf Kolonos”:
Zitat:
Nicht geboren zu werden übertrifft jedes Wort. Aber, wenn einer ins Licht
getreten, zu gehen dorthin, woher er kam, aufs schnellste, das nächstbeste ist es bei weitem.
Inhaltlich sind beide Zitate fast identisch, der literarische Homer macht im Dichterwettstreit die Fahrt in die Nachwelt als nächstbestes aus, Sophokles die Rückkehr zu jenem Ort, aus dem man in die Welt gefallen ist: die Vorwelt.
Möglicherweise greifen beide Textstellen auf Theognis von Megara (etwa zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts v.u.Z.) zurück:
Zitat:
Gar nicht geboren zu werden, das wäre für Menschen das Beste, nimmer des Sonnengotts sengende Strahlen zu schauen; ist man aber geboren, so schnell, wie es geht, in des Hades Pforten zu dringen und dort unter der Erde zu ruhn.
Bei Heinrich Heine heisst es dann viel später formvollendet und ergreifend in dem nachgelesenen Gedicht “Morphine”, man spürt in den Worten seine Leiden:
Zitat:
Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser - freilich
Das Beste wäre, nie geboren sein
Wieder ein wenig später nimmt Friedrich Nietzsche in “Die Geburt der Tragödie” (1872) den Gedanken auf und formt ihn wie folgt:
Zitat:
Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.
Es gibt sicherlich noch weitere Beispiele, bei William Blake, Percy Bysshe Shelley oder Shakespeare, von Thomas Bernhard ganz zu schweigen. Ich wünschte fast, ich könnte mich berufsmäßig damit beschäftigen, um es ausführlicher und genauer darzustellen!
Ein – hier sei ein Sprung in die neuzeitlichen sozialen Medien erlaubt – jüngeres Beispiel auf Twitter geht ungefähr wie folgt, da es mir entfleucht ist, kann ich es nur sinngemäß und ohne Urheber, der ohnehin per Pseudonym unterwegs war, wiedergeben:
Zitat:
Mein Beitrag zu einer besseren Welt ist, keine Kinder zu haben. Das ist dann auch schon alles.
Und trotzdem – was gibt es schöneres, als Kinder zu haben – und zu leben?!
Und wenn man keine Kinder haben kann oder mag: als Pflanzen zu pflanzen?