Als versalia.de vor nun bald 20 Jahren am 14.04.2001 ans Netz ging und damit das Licht der Welt erblickte, war ich selbst erst 22 Jahre alt. Ich hatte ein Jahr zuvor mein Architektur-Studium abgebrochen und durchlebte die letzten Monate des Goldenen Internetzeitalters bei einer kleinen, ziemlich chaotischen Agentur als leitender Entwickler. versalia.de war mein persönliches Baby, das in ungefähr 6 Monaten Arbeit in einer Zeit entstand, in der ich nahezu rund um die Uhr vor dem Computer saß. Feierabend gab es nur für ein paar Stunden Schlaf oder jene, die ich auf Techno-Parties verbrachte.
Ein langer Weg
versalia.de ist das Ergebnis einer längeren Evolution. Ich hatte bereits als Grundschüler angefangen, zu schreiben, vermutlich in der 2. Klasse. Als Jugendlicher arbeitete ich an meinem ersten Roman und verfasste über einhundert Texte für eine Punkband, von denen die meisten heute glücklicherweise verlorengegangen sind. Im Jahr 1999 habe ich schließlich meinen persönlichen Stil gefunden; mein erstes Gedicht, das ich auch heute noch lesen kann ohne zu erröten, entstand nach einer auf einer Goa-Party einsam durchfeierten Nacht – es entstammt zweifelsohne einer anderen Welt, ich war nur das unschuldige Medium, das es niederschreiben durfte. Zur etwa selben Zeit entdeckte ich einige Literaturforen im Internet und hatte unter anti-literatur.de bald meine erste eigene Netzseite mit eigener Domain, die ich zuvor noch bei einem großen Homepage-Anbieter untergebracht hatte, den es in dieser Form schon seit vielen Jahren nicht mehr gibt.
Literarischer Aufbruch in das digitale Jahrtausend
In der Zeit um das Jahr 2000 entdeckten viele Autoren das Internet für sich; sie gestalteten sich oft sehr kreative Netzpräsenzen, jede war einzigartig, es gab noch keine sozialen Medien und keine Blogs, die sich sicherlich gut bedienen lassen, aber heute ja fast alle gleich aussehen und von denen in erster Linie die Internet-Riesen selbst profitieren. Um seine eigene Seite bekannt zu machen, begab man sich damals in Foren, trug sie in Webseiten-Verzeichnisse ein oder wurde Teil eines Seitenringes, in dem man links und rechts von sich Nachbarn hatte, die man über ein Widget erreichen konnte. Mit literatur100.de habe ich im Jahr 2000 etwas ähnliches ins Leben gerufen: Eine Topliste für Literaturseiten. Teilnehmende Seiten haben sich dabei ein Banner auf ihre Webseite eingebunden, jeder Klick darauf zählte und erhöhte die Position in der Liste. Das ist natürlich ein zweifelhaftes Verfahren gerade für ein Kulturthema, aber die Liste ermöglichte es Autoren, Kollegen kennenzulernen und Besucher untereinander auszutauschen. Viel meiner Zeit musste ich freilich damit verbringen, Schummeleien technisch zu unterbinden, denn das ganze Prinzip der Topliste lud ja dazu ein, sich nach oben zu mogeln um selbst noch mehr Besucher zu bekommen als die anderen Teilnehmer.
”Wahrheit ist es, vor der die Meinung erbleicht”
Auf meiner Autorenseite anti-literatur.de betrieb ich irgendwann im Jahr 2000 auch ein kleines Literaturforum, aber mit der Zeit fühlte es sich unpassend an, das eigene mit dem fremden so stark verwoben zu sehen. So entstand die Idee zu versalia.de. Am Anfang war es erst einmal nur ein kuratiertes Verzeichnis von Literaturseiten, sortiert nach Kategorien – quasi ein kleines, thematisch abgegrenztes Yahoo! (falls es noch jemand in seiner damaligen Form kennt). Es war gewissermaßen die seriösere Variante von literatur100.de. Dieses Verzeichnis gibt es heute nicht mehr, aber mit der Zeit hatte ich andere Bereiche wie die Rezensionen, Biographien oder das Klassiker-Archiv nach und nach dazugebaut. Im Sommer 2001 folgte das Forum, das bis etwa 2008 Austragungsort reger, teilweise auch heftiger Diskussionen war. 2002 klonte ich das System hinter versalia.de und erweiterte es zu einer Kunstgalerie (kunstgalerie.org, später umbenannt in das griffigere xarto.com).
Junges wird ja so schnell alt
Ich habe mir damals, als ich noch so jung war, nicht vorstellen können, dass ich etwas schaffen würde, das so ein langes Leben führt. Allerdings habe ich – ganz ehrlich – von mir selbst genauso wenig angenommen, einmal so alt zu werden, wie ich jetzt bin. Nun ist es geschehen. Ich habe mit der Zeit furchtbar viele Fehler aber einiges sicherlich auch ganz gut gemacht. Aus technischer Sicht ist der rund 20 Jahre alt Code, auf dem versalia.de basiert, natürlich eine Katastrophe; kein Entwickler möchte mit einem Code arbeiten müssen, der so hastig und unerfahren geschrieben worden ist. Seit ich nicht mehr selbständig bin, habe ich den Code allerdings auch nicht mehr häufig angefasst – und das ist schließlich die längste Zeit, die das Projekt besteht. Heute könnte ich natürlich etwas bauen, was technisch vielfach besser sowie zeitgemäßer ist und auch ein breiteres Publikum anspricht, nur habe ich dafür nicht mehr die Zeit, die ich noch als junger Erwachsener besaß. Deswegen kann ich heute selber wie ein alter Mann sagen: Du bist nur einmal jung, nutze Deine Zeit – etwas, das ich früher selbst verlacht habe, weil man die temporale Dimension als junger Mensch ja ganz anders einschätzt.
Auf und Ab im Lauf der Zeit
Es gab hier wie bei allem bessere und schlechtere Zeiten – an menschlichem Drama war fast alles dabei: Der Versuch einer organisierten, feindlichen Übernahme des Forums, der Suizid eines Mitglieds, manchmal sogar das Auftauchen leidlicher Verschwörungstheorien, produziert von wirren Köpfen. Natürlich war ich mitunter versucht, versalia.de zu beerdigen, wenn es mich wieder einmal mehr Nerven kostete als ich positives darin sehen konnte, aber es ist ja immer noch ein kleiner, besonderer Ort für die Literatur, mit tausenden von Rezensionen und mehr oder weniger sporadisch erscheinenden Beiträgen im Forum, von denen etliche auch nach Jahren relevant sind. Selbst wenn der weltliche Erfolg zugegebenermaßen bescheiden ausgefallen ist, bin ich trotzdem stolz auf dieses Projekt. Joseph Roth, Knut Hamsun, Franz Kafka, Thomas Mann, G.W.F. Hegel, Friedrich Nietzsche, Cioran, Alfred Döblin, Thomas Bernhard – das sind nur ein paar Namen großer Literaten oder Philosophen, die sich auf den Seiten von versalia.de immer wieder finden. Den Zeitgeist haben wir oft an uns nur vorbeihuschen lassen oder, wenn wir uns doch mit ihm befassten, größtenteils kritisch beäugt.
Danksagung
Ich danke allen Menschen von Herzen, die diesen Ort mit ihren Beiträgen oft über viele Jahre zu dem gemacht haben, was er heute noch und hoffentlich für viele weitere Jahre ist. Augenzwinkernd verabschiede mich mit einer neuen Variation von Eichendorffs “Wünschelrute”:
Zitat:
Es schläft ein Lied in allen Dingen
Viele hundert Jahre lang,
Und die Welt hebt an zu singen,
Verleihst Du ihm den wahren Klang.