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-- Aesthetik
--- Nico 1988

Kenon - 28.02.2021 um 01:11 Uhr

“I’ve been on the top. I’ve been on the bottom. Both places are empty”.

“Nico 1988” (2017) ist ein Biopic von Susanna Nicchiarelli über das letzte Lebensjahr der Sängerin Christa Päffgen (*1938) alias Nico, gespielt von Trine Dyrholm. In dem Film sieht man Nico größtenteils mit ihrem Manager und ihrer Band etwas planlos in einem Mini-Bus durch Europa reisen, von Gelegenheitsauftritt zu Gelegenheitsauftritt. 1988 ist das Ende ihres kurzen und doch sehr bewegten Lebens: Nico hat ihren Vater als kleines Kind im Krieg verloren, den Bombenhagel und Untergang Nazi-Deutschlands erlebt, sie wurde mit 13 Jahren von einem GI vergewaltigt, mit 15 vom Modefotografen Herbert Tobias als Model entdeckt, von da an ging es für sie gesellschaftlich nach oben - ganz weit nach oben. Sie wurde in den USA “Popgirl ´66”, Andy Warhol holte sie für die Aufnahmen zu “The Velvet Underground & Nico” ins Studio, was ihr bis heute anhaltenden Ruhm einbrachte. Ihr deutscher Akzent, ihre tiefe, immer etwas zittrige, teilweise plärrige und nie besonders treffsichere Stimme wurden zu ihrem musikalischen Markenzeichen, optisch glänzte sie mit ihrem langen blonden Haar, den hervorstechenden Wangenknochen, den oft durch Drogenkonsum riesig erscheinenden Augen, die bis in die letzten Lebensjahre von Mascara eingerahmt waren. Aus dem blonden Model-Engel wurde dann ein schwarzgefärbter Todesengel, mager zuerst für den Beruf, später aufgrund der Heroin-Sucht. In ihrer Solo-Karriere leuchtete sie mit ihren Liedern die tiefsten Tiefen menschlichen Seins aus; ihre Alben (“The Marble Index”, “Desertshore”, “The End ...”, “Camera Obscura” u.a.) sind überdauernde Meilensteine und Vorreiter des Gothic- und Dark Wave-Genres.

Trine Dyrholm spielt die Hauptdarstellerin in “Nico 1988” ganz wunderbar. Ich hatte keine Hintergrundinformationen zu dem Film, als ich ihn sah und mich schon länger nicht mit der Sängerin befasst, so dass ich mich tatsächlich vergewissern musste, dass es keine Originalaufnahmen waren. Am Gesang - Trine hat alle Lieder für den Film selbst eingesungen - wurde es dann klar: Es war nicht Nico, da die Schauspielerin eine bessere Sängerin ist. Überragend ist sie in der Interpretation von “My heart is empty”, die im Film auf einer Bühne in der damaligen Tschechoslowakei aufgeführt wird. Ich wünschte, das Lied würde niemals enden, so sehr bewegt mich seine getriebene, energievolle Emotionalität aus Abgründigkeit, Depression, Frustration und Aggression:

My heart is empty · But the songs I sing · Are filled with love for you

Liebe. Im Film sehen wir die tiefe, manchmal etwas verstörende Liebe der Mutter zu ihrem Sohn Ari. Wenn ich mich recht entsinne, wird Ari, ein Kind, das Nico mit Alain Delon zeugte, in den Film durch historische Originalaufnahmen eingeführt: Wie er als Knirps verlassen unter zugedröhnten Erwachsenen von Glas zu Glas wandert und den vermutlich darin enthaltenen Alkohol - das Gesicht verziehend - probiert. Dass dieses verträumte Kind später einmal einen Selbstmordversuch unternehmen wird, den uns auch “Nico 1988” zeigt, wundert daher nicht sonderlich.
Der Film ist liebevoll gemacht, auch wenn Kenner der Materie etliche Details bemängeln - aber für die Details gibt es schließlich Bücher. Irgendwie ist es ein Wunder, dass “Nico 1988” überhaupt gedreht wurde. Wie so viele Filme, habe ich es damals verpasst, ihn im Kino zu sehen. Mich berührt es, dass er das Andenken an die beeindruckende Persönlichkeit, die Nico war, bewahrt und auch jüngeren Menschen zugänglich macht. Nico Icon.

Nico, 1988 - International Trailer

Bis zum 20.03.2021 kann der Film noch kostenlos in der ARTE-Mediathek angeschaut werden:
https://www.arte.tv/de/videos/097598-000-A/nico-1988/




Kenon - 01.03.2021 um 23:41 Uhr

Auf YouTube ist auch die frühere Dokumentation “Nico Icon” mit vielen Originalaufnahmen und Zeitzeugen-Interviews zu sehen, die eine realistische Ergänzung zu “Nico 1988” ist. Als ich den Film das erste Mal in den 1990ern sah, ging ich noch in einer mecklenburgischen Provinzstadt zur Schule und schaute durch ihn auf die verwirrenden Abenteuer, die das Leben einigen wenigen bieten kann.

Nico Icon (1995)
Spielzeit: 70 Minuten, Regisseur: Susanne Ofteringer

Mit die interessantesten Betrachtungen Nicos erzählt uns Carlos de Maldonado-Bostock, ein Weggefährte im Paris der 1960er Jahre:

Zitat:

She didn´t hate people. She was incapable of hating people. But she didn´t like people. She was just alone, alone. […]

Poor Nico. She was just an object. But she didn´t want to be an object. But she knew she was an object and she didn´t know how to control the whole thing. The moment she was liked she turned her back. She didn´t like people to like her.

In einer Sequenz fragt der Interviewer, ob Nico irgendetwas in ihrem Leben bereue. Sie verneint - außer vielleicht dass sie nicht als Mann auf die Welt gekommen ist. Nur ein Spaß?




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