Diese gesellschaftliche Polarisierung ist schon besorgniserregend, und ich habe gemerkt, dass ich selbst sehr genau überlegen muss, wieweit (und wie oft) ich mich auf das, was ich kürzlich als Spiel beschrieben habe, einlasse, denn es ist zu leicht, dabei selbst Verhaltensformen anzunehmen, die ich eigentlich ablehne. Der Eingangsbeitrag ist für mich wegen des Satzes mit dem Interpretationsvermögen schon ein Grenzfall, aber nun ist er eben geschrieben und veröffentlicht, mag er als persönliche Mahnung stehenbleiben.
Auch ist es manchmal befremdlich, aus welchen Ecken in den sozialen Medien plötzlich Beifall kommt (ich meine natürlich nicht Dich), wenn ich genehmes äußere - und andererseits aber auch, zu wem ich den politischen Abstand verringert habe, was mir vor einem Jahr noch als künftige Entwicklung unmöglich erschien. Die Pandemie mag eine Rolle spielen, den Leuten ist langweilig, sie werden geschwätzig, übermütig, übergriffig und zänkisch, aber sie kann nicht alles erklären, was vor sich geht.
Sehr gut, dass Du Trump erwähnst: Inzwischen glaube ich besser zu verstehen, welche Stimmungslage ihn möglich gemacht hat. Deutschland scheint auf einem ähnlichen Weg wie die USA zu sein, sowieso sind die uns ja immer einen Schritt voraus.
Wenn sich die Gesellschaft spaltet (was immer offensichtlicher passiert) und zwischen den Lagern verbal die Fetzen fliegen, freuen sich alte und neue Medien, weil sie von diesen Konflikten profitieren - das ist ihr Stoff, ihr Lebenselixier, ihre Mechanismen befeuern den Krach im Irrenhaus. Irgendwann wird es vielleicht auch bei uns entsprechende politische Akteure geben, die das für sich auszunutzen wissen werden. Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Die Woke-Kultur mag in Deutschland noch einen Vorsprung haben: Sie hat bereits viele öffentliche Einrichtungen erobert, Privatunternehmen ziehen nach, aber es wird auch eine starke Gegenbewegung geben, die vermutlich ähnlich grob zur Sache gehen mag.
Überrascht hat mich dieser Tage der altersweise Wolfgang Thierse mit seinem Debattenbeitrag in der FAZ:
Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft? (Paywall)
Dafür, dass er in bewundernswerter Ausführung den demokratischen Diskurs verteidigt hat, ist er auf Twitter scharf angegriffen worden. Wenn das einem so gemäßigten, klugen und umsichtigen Menschen wie Herrn Thierse passiert, wird deutlich, in welcher Schieflage wir uns aktuell bewegen. Wieviele Menschen trauen sich heute überhaupt noch, ihre Meinung kundzutun? Ich erinnere mich: Was hat es 2019 für einen Aufschrei gegeben, als Umfrageergebnisse zur Meinungsfreiheit in Deutschland bekannt wurden?
Zitat:Man könne seine Meinung zu bestimmten Themen nicht oder nur mit Vorsicht frei äußern, sagten 78 Prozent der Deutschen jüngst in einer Allensbach-Umfrage (FAZ), gut zwei Drittel (69 %) äußerten sich Anfang der Woche bei einer Sachsen-Umfrage von Infratest (MDR) ähnlich.
Quelle:
Erschreckende Umfragen (bild.de)
In einem Interview mit dem DLF hat sich Wolfgang Thierse zu dem Shitstorm um seinen ursprünglichen Diskussionsbeitrag in der FAZ geäußert (ich empfehle die Audioversion, weil man dem Menschen durch seine gesprochene Sprache näher kommt - die Sätze wie das nachfolgende Zitat sind auch nicht immer druckreif im Sinne von strukturell fehlerfrei formuliert, im Mündlichen hat man dafür mehr Verständnis):
„Ziemlich demokratiefremd“
Im Interview sagt Thierse über den Rassismus der vorgeblichen Anti-Rassisten:
Zitat:
Eine Ansicht, die einem nicht passt, die wird identitär zurückgewiesen. Mein Alter, meine „Rasse“, mein Geschlecht, meine sexuelle Orientierung – also ist die Sache erledigt. Man muss sich mit der Ansicht nicht befassen. Man kann sie einfach ablegen, weil sie so von einem Menschen, der ja immer definiert ist mit einer bestimmten Identität, vorgetragen worden ist.