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--- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo - Neuverfilmung 2021
Kenon - 21.02.2021 um 01:17 Uhr
Die Geschichte des heroin-abhängigen Teenagers Christiane F. aus West-Berlin ist ein nach wie vor lebendiger Teil unserer Populärkultur und bedarf daher keiner umständlichen Einleitung. 1978 wurde sie von zwei Stern-Reportern aufgeschrieben, als Buch herausgebracht und zum größten Sachbuch-Bestseller der deutschen Nachkriegszeit, 1981 erstmals verfilmt und sogar Schullektüre. 40 Jahre später erscheint nun eine Neuverfilmung der Produzenten Oliver Berben und Sophie von Uslar nach einem Drehbuch der Autorin Annette Hess (“Weissensee”) auf Amazon Prime. Man hat eine Mini-Serie in acht Teilen gedreht. Meine Erwartungen an diese Neuauflage waren eher gering, es kommt ja häufig nicht viel gutes dabei heraus, wenn ein alter Stoff nach heutigen Maßstäben neu interpretiert wird, da wir in einem puritanisch-toxischen Zeitalter leben, in dem alles immer korrekt zugehen muss und schwarzes so lange weißgewaschen wird, bis endlich ein steriles Endprodukt bei einem filmischem Unterfangen herauskommt, das eine “pädagogisch wertvolle” aber doch ziemlich schräge künstliche Soziologen-Wunschwelt zeigt.
Puristen, welche die Erstverfilmung von “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” lieben, mögen die Neuverfilmung verdammen, schon weil sie anders ist, was bereits beim Alter der Darsteller beginnt: Sie sind deutlich über die 14 Jahre hinaus. Dabei geht es den Kritikern sicherlich nicht um ästhetisches Empfinden sondern um einen möglichst realistischen Cast. Mir ist es egal, ich bin kein Cineast, schreibe hier lediglich als Laie und halte die Rollen für ziemlich gut besetzt und ausgefüllt. Die Teenager-Junkies sind mager und jung genug, aber darum geht es natürlich nicht vordergründig. Worin die Neuverfilmung tatsächlich überraschend brilliert, ist die präzise Zeichnung der Milieus, in denen sich die handelnden Figuren bewegen, ihrer gegenseitigen Verstrickungen, ihrer Träume, ihres Leids und ihres allzu menschlichen Elends. Die in gehobene Verhältnisse in Dahlem geborene Babette (Lea Drinda) landet ebenso an der entspannend-giftigen Nadel wie Stella (Lena Urzendowsky) als Tochter einer alleinerziehenden, alkoholabhängigen Eckkneip-Betreiberin. Streit, Gewalt, Trennung, Vernachlässigung, Überfürsorge, sexueller Missbrauch - einfach ist das Leben selten, und wenn es schwierig anfängt nimmt es gern weiter einen ebenso schwierigen Verlauf. So ergeht es denn auch den Jugendlichen Axel (Jeremias Meyer), Benno (Michelangelo Fortuzzi), Christiane (Jana McKinnon) und Michi (Bruno Alexander). An Liebesverwirrungen zwischen ihnen fehlt es natürlich nicht: Axel liebt Christiane (vergeblich), Michi liebt Benno (größtenteils vergeblich), auch Christiane liebt Benno, aber anfangs interessiert dieser sich nicht sonderlich für sie, erst das Heroin bringt sie wirklich zusammen. Sowieso ist der Drogenkonsum der kleinste gemeinsame Nenner dieser Teenagerclique, den sie größtenteils durch kleinere Delikte oder sexuelle Dienstleistungen an oft bedauernswerten Erwachsenen finanzieren. Und dann ist da auch noch irgendwie David Bowie. Eine heute nur mehr schwer nachzuvollziehende Faszination, wobei “Heroes” natürlich ein unbestrittener Klassiker ist - in der Version von Christa Päffgen alias Nico.
Die vielleicht wichtigste Neuerung im Jahre 2021 ist der entspanntere Umgang mit dem Thema Homosexualität, vor allem filmisch verkörpert im Verlangen Michis nach Benno, das erst auf einem Trip nach Prag gestillt werden kann - wenn auch nur für eine kurze Nacht. Die Darstellung des Detlef (heute: Benno) in der Originalverfilmung im Bett mit einem zahlenden Freier war noch ein Tabubruch, die auch für den damaligen Darsteller eine Herausforderung und im Nachhinein eine Belastung gewesen ist.
Der real-existierende Bahnhof Zoo ist drogenmäßig seit vielen Jahren trockengelegt, aber entlang der U-Bahnlinie 8 von Heinrich-Heine-Straße bis zumindest Hermannplatz gibt es auch heute noch eine blühende Junkie-Szene in West-Berlin. Gebrauchte Spritzen säumen die Gleisbetten, angekokelte Alu-Folien liegen in den Passfoto-Automaten, am Kottbusser Tor werden in Menschentrauben, die immer wieder von Polizeieinsätzen zerstreut werden, Kleindeals abgewickelt; aber Heroin ist ein Stoff für ältere Menschen geworden. Die Jugend muss und möchte wach und leistungsfähig sein und nimmt heute lieber Crystal Meth, selbst schon im provinziellen Strausberg. Ganz ohne Drogen geht es nicht, erst recht nicht in dieser anstrengenden Gegenwart. Das Leben ist ja bloß ein Spiel - und oft nur ein langer Rausch.
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