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--- Altchinesische Novellen

ArnoAbendschoen - 15.02.2021 um 14:16 Uhr

Der Sinologe Franz Kuhn brachte 1951 erstmals die Novellensammlung „Der Turm der fegenden Wolken“ heraus. Die Titelgeschichte ist eine von hier elf von ihm ins Deutsche übertragenen Erzählungen, entnommen aus drei Originalsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Acht Novellen, darunter auch die titelgebende, waren Bestandteil des „Schi örl loh“, zu Deutsch „Zwölf Türme“. Ihr Verfasser Li Yu (oder Li Yü), Zeitgenosse von Grimmelshausen, lebte von 1610 – 1680. Sein Leben und Wirken als Schriftsteller, Leiter einer Theatertruppe und Vielreisender in China, ist gut dokumentiert. Er schrieb außer Novellen u.a. den erotischen Roman „Jou pu tuan“ (deutsch: „Andachtsmatten aus Fleisch“) und viele Theaterstücke.

Die acht Novellen von Li Yu in der Anthologie weisen eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen auf. Ihre Handlung ist jeweils in, aus Sicht des Autors gesehen, historischer Zeit angesiedelt, von der Sung-Dynastie über die Mongolenzeit bis zur Ming-Dynastie. Nur „Der Turm des Ahnendienstes“ spielt während der Lebenszeit des Autors vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Ming-Herrschaft und des Übergangs zur Tsing-Dynastie. In allen wird der allgemeine soziale Hintergrund - Familien- und Besitzverhältnisse, Ämterlaufbahnen, oft auch politische Krisen – mitausgeleuchtet. Hauptthema sind jedoch Paarungen und ihre Hindernisse. Es ist viel von Heiratsvermittlern und von familiärem Zwist zu lesen. Polygamie fehlt nicht. Magie wird als Hokuspokus dargestellt. Kriminalität kommt vor, Diebstähle vor allem, ebenso eine noch seltene technische Neuerung: aus Europa eingeführte Ferngläser. Alle acht Geschichten haben einen positiven Ausgang.

Von Li Yus Novellen unterscheiden sich die drei weiteren beträchtlich. Die beiden Texte aus der älteren Sammlung „Kin ku ki kwan“ kennen noch wahre Zauberkräfte und enden beide tragisch. Hier vermittelt „Der törichte Buhle“ außerdem einen guten Einblick ins damalige Bordellwesen. Die Novelle mit dem längsten Titel spielt auch in der ältesten Zeit: „Meister Tschuang Tse, den irdenen Kübel als Trommel benutzend, übt hohe Magie“. Seelenwanderung ist ein Hauptmotiv in „Die Kampfgrille“ aus der Sammlung „Liao Tschai“.

Der Leser sollte sich von vornherein über eines im Klaren sein: Es handelt sich hier um keine Übersetzungen in enger Tuchfühlung mit dem Original, sondern um Nachdichtungen. Wegen seiner Freiheiten dabei ist Franz Kuhn, der ursprünglich nur Jurist war, von anderen Philologen manchmal kritisiert worden. Kuhn konnte allerdings das alte China, vor dem Untergang des Kaisertums, noch mit eigenen Augen erleben. Er war von 1909 - 1912 als Diplomat in China tätig (u.a. Vizekonsul in Harbin). Seine Übertragungen altchinesischer Literatur überbrücken für den Laien, den Nichtphilologen unter seinen Lesern sehr gut die immense zeitliche und kulturelle Kluft und vermitteln ihm ein farbiges und detailreiches Bild jener fernen Welt. Und so fern und verschieden von Gegenwärtigem sie uns vorkommen mag – die alte Literatur ist gerade im heutigen China wieder präsent. Sie wird viel gelesen und diskutiert und bezeugt damit die fortdauernde Kontinuität der ältesten noch bestehenden Hochkultur der Menschheitsgeschichte.




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