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-- Politik & Gesellschaft
--- Der Tod des Nawalny
Kenon - 09.02.2021 um 00:19 Uhr
Als sich der russische Dissident Alexei Nawalny im Januar 2021 nach seiner Genesung von einem durch den russischen Staat auf ihn mit dem Nervengift Nowitschok verübten Anschlag freiwillig zurück in die Fänge Putins begab, war ihm klar, dass der Einsatz nichts geringeres als sein leibliches und seelisches Wohl, ja, dass er vermutlich sein ganzes Leben ist. Nawalnys Entscheidung zeugt daher nicht von Leichtsinn, sondern nahezu übermenschlichem Mut – “Fürchtet Euch nicht!” rief er den Russen wie ein Engel in der Bibel zu. Die Entscheidung, das eigene Leben hintenan zu setzen, ist in der Geschichte nicht ohne Beispiel: Wir erinnern uns an Sokrates, der darauf verzichtete, durch die Hilfe seiner Freunde der Hinrichtung zu entgehen – allerdings aus Respekt vor dem herrschenden Recht. Wie nicht zuletzt die Känguru-Prozesse um Nawalny und davor gegen die zahlreichen ukrainischen Geiseln gezeigt haben: Mit dem Recht ist es in Russland nicht weit her. Es ist eine vollkommene Farce. Sokrates Motivation ist deswegen nicht mit der Nawalnys vergleichbar, beide jedoch haben das Schicksal, das die Herrschenden ihnen in ihrer Heimat zugemessen haben, angenommen. Sokrates hat sein Urteil akzeptiert, Nawalny hat das seinige zu recht lächerlich gemacht und zudem mit seinem millionenfach geklickten, Ende Januar erschienen YouTube-Video “Putins Palast” einmal mehr gezeigt, dass der Zar in Wirklichkeit nackt ist, auch wenn sein Image bisher darauf abzielte, dass er für alte russische Frauen den Mann darstellt, den sie gern gehabt hätten und für die alten russischen Männer den “Sammler russischer Erde”.
Dieses “Fürchtet Euch nicht!” ist eine der wichtigsten Botschaften Nawalnys. Nur wer sich nicht mehr fürchtet, nur wer bereit ist, auch die größten Opfer auf sich zu nehmen, kann eine so gefestigte Diktatur wie in Belarus unter Lukaschenka oder in Russland unter Putin auf die Knie zwingen und sein Land in eine freie, demokratische Zukunft führen. Natürlich reicht es nicht, wenn nur Einzelne bereit sind, diesen drastischen Schritt zu gehen, es kommt auf die Solidarität der Bevölkerung an. Ohne diese Solidarität hätte sich auch das russisch besetzte “Volkspolen” nie befreien können, hätte das gesellschaftliche Elend kein Ende gefunden. Kleinmut, Stillehalten, auf den eigenen kleinen marginalen Vorteil schauen – das war schon immer ein Garant für das Überdauern der Unfreiheit. Leider verharren die meisten Menschen in genau diese Anpassungen: Sollen die anderen doch ihre Körper den Knüppeln, Schüssen, Granaten hinhalten – so lange es mir noch halbwegs gut geht, kümmere ich mich nur um meine eigenen kleinlichen Belange. Das kann man auch in unserer Gesellschaft, wo es um wesentlich kleinere Ungerechtigkeiten geht, täglich beobachten.
Manchmal muss man sterben um zu leben – oder, wie Sokrates gesagt haben soll:
„Aber schon ist es Zeit, dass wir gehen – ich um zu sterben, ihr um zu leben: wer aber von uns den besseren Weg beschreitet, das weiß niemand, es sei denn der Gott.“
Das Leben in einer Gesellschaft, die den Sokrates zum Tode verurteilt hat, mag für Sokrates selbst wenig lebenswert gewesen sein, deswegen ist sein Entschluss folgerichtig. Nawalny hingegen geht es um die Zukunft, das Leben – besser und gerechter sollen sie sein. Hoffen wir, dass er selbst seine Gefangenschaft überlebt und dass es den Russen gelingt, ihren heutigen Zaren wie 1917 zum Teufel zu jagen, und dass es dieses Mal nur einen Februar und keinen Oktober gibt – die Demokratie also nicht von einer barbarischen Diktatur gefressen wird, die einem großen Teil unseres Planeten die Unfreiheit bringt. So viel steht für mich heute allerdings bereits fest: Eine Befreiung Russlands wird es nicht ohne eine Befreiung der in ihm gefangenen Völker, wird es nicht ohne Aufgabe vieler aktuell besetzter Gebiete geben können, denn auf dauerndem Unrecht lässt sich kein gerechter Staat erbauen.
Kenon - 19.04.2021 um 00:24 Uhr
Alexei Nawalny (44) ist seit Februar 2021 in russischer Haft, seit Ende März befindet er sich im Hungerstreik. Eine adäquate medizinische Versorgung wird ihm verwehrt, seine Ärzte dürfen ihn nicht mehr besuchen.
Nawalnys Ärzte sagen, dass seine Vitalwerte inzwischen so schlecht seien, dass er jederzeit im Gefängnis sterben könnte. Ein Regierungsvertreter versichert, dass dies nicht passieren wird: Will man ihn kurz vorher noch vor die Gefängnismauer legen?!
Verbündete Nawalnys haben für den 21. April 2021 zu Protesten in Russland aufgerufen. Es sei eine “Endschlacht der gewöhnlichen Leute und des absolut Bösen” (in einer anderen Formulierung wird das Gute der Neutralität gegenübergestellt). Wieviele werden trotz der zu erwartenden brutalen Repressionen des Putin-Regimes diesem Aufruf folgen? Es kann für das Volk für lange Zeit die letzte Möglichkeit einer offenen politischen Willensbekundung werden.
Ich wünsche dem russischen Volk viel Erfolg dabei, sich aus seiner fortwährenden Knechtschaft zu befreien – und bleibe doch tragisch-pessimistisch.
ixchel - 19.04.2021 um 17:05 Uhr
Ich halte Nawalnys Entscheidung für völlig FALSCH - Nicht mutig, eher dumm! Nein, er ist nicht dumm, aber er hat eine dumme Entscheidung gefällt, direkt in die Hände dieses mörderischen Faschisten Putin. Was Nawalny unterschätzt ist, dass diese Art von Politikern, sich schon lange nicht mehr an der Weltöffentlihckeit und deren Reaktion orientieren. Sondern ihre Morde, kriegerischen Aktionen, Verhaftungen und Einsätze ihrer Knüppelbrigaden, ganz offen durchführen. Die Meinung westlicher Demokraten wird nur noch verspottet und das macht sie um so gefährlicher! Was nützt ein Nawalny als Märtyrer? Vor allem für sich selbst und seiner Familie? #OnlyOneLife kann ich da nur sagen... Um Putin in die Schranken zuweisen oder vom Thron zu stoßen, braucht es viel mehr als ein Nawalny! Leider!!!
Kenon - 20.04.2021 um 20:31 Uhr
Nawalny wird den schlimmsten Fall als realistisches Szenario betrachtet haben, denn dumm ist er keinesfalls. Es geht um mehr als nur ihn, auch deswegen ist er bereit gewesen, sein Leben zu opfern. Natürlich kann er allein keinen Wandel Russlands herbeiführen, dafür braucht es noch viel mehr, da hast Du vollkommen Recht. Es gibt keine Erfolgsformel für Völker, die sich von ihren Tyrannen befreien wollen. Der Ukraine ist es teilweise gelungen, viele Menschen mussten und müssen dafür sterben, für Tibet und Hong Kong gibt es wenig Hoffnung und auch in Belarus ist der Kampf für die Freiheit ein sehr kostspieliger, der vermutlich auf längere Zeit geführt werden muss. Das Phänomen gefangener Bevölkerungen, die von bewaffneten Eliten niedergehalten werden, gibt es seit dem Heraufkommen von Stadtstaaten - der Kampf gegen die Tyrannei ist eine Konstante menschlicher Zivilisation. Der Kampf geht weiter ...
Kenon - 17.02.2024 um 09:30 Uhr
Jetzt ist Nawalny wirklich gestorben.
Möge er in Frieden ruhen – und das verbrecherische Russland bald untergehen.
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