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-- Philosophie
--- Ein Spiel mit unfairen Regeln
Kenon - 03.02.2021 um 08:16 Uhr
Leszek Kołakowski (1927-2009) war einer der großen polnischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Hauptwerk “Main Currents of Marxism” (1976) hat er maßgeblich Anteil an der dauerhaften intellektuellen Diskreditierung des Marxismus gehabt. Dabei ist er ähnlich gründlich wie Karl Popper in “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” (1945) vorgegangen, indem er sich bei seinen Analysen nicht nur auf Karl Marx beschränkte, sondern einen breiten gedankengeschichtlichen Bogen spannte, angefangen bei Platon und Plotin.
Leszek Kołakowski hatte Glück: Er konnte den endgültigen Ruin der Sowjetunion und allgemein der kommunistischen Idee noch erleben. In seinen letzten Lebensjahren musste er jedoch erkennen, dass eine neue totalitär auftretende Idee angetreten ist, um uns mehr und mehr unserer Freiheit zu berauben. Es handelt sich dabei um die sogenannte Political Correctness.
Was ist Political Correctness?
Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Ich glaube, sie ist ein Spiel mit unfairen Regeln, bei dem immer die Vertreter der Political Correctness, die sich im Voraus selbst als “die Guten und einzig Guten” definiert haben, gewinnen. Political Correctness legt fest, was noch gesagt werden darf, sie verengt fortwährend den Raum sprachlicher Möglichkeiten – sowohl in der Form als auch den Inhalten. Wer gegen die meist nirgendwo explizit ausgesprochenen Regeln verstößt, gehört automatisch zu “den Bösen” und läuft Gefahr, einem Ostrazismus unterworfen zu werden – und zwar nicht nur geltend für die vor ihm liegende Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit: Wer gegen die Political Correctness verstößt, wird manchmal mit einer gar zerstörerischen Lust regelrecht ausgetilgt. Man kündigt Verträge, nimmt Kunstwerke vom Markt, schneidet die in Ungnade gefallene Person aus Fotos und filmischem Material, als hätte sie nie existiert. Es ist die totale Vernichtung eines Menschen unter dem Zeichen der Verbesserung der Menschen. Der politisch Korrekte erhebt sich gegenüber dem Sünder: Seht her, wie verderbt jener ist. Und lebt doch selbst in tiefster Sünde.
Menschen, die sich als Vertreter der Political Correctness sehen und auf ihren Wellen reiten, haben auf der anderen Seite quasi eine erstaunliche Narrenfreiheit: Sie dürfen ungestört alle und jeden mit ihren Ansichten jederzeit beglücken. Sie haben immer Recht und sind wie durch einen Heiligenschein vor allen Zweifeln geschützt. Widerworte traut sich kaum noch jemand zu erheben, denn er würde ja dabei Haut für eine schier hoffnungslose Sache riskieren. Man verfällt in Apathie, Furcht und Schweigen, die immer schon ein guter Nährboden für jede Diktatur waren. Die Narren hingegen schwadronieren von der wünschenswerten Beschriftung von Toilettentüren, der korrekten Verwendung von Personalpronomen, wie Inklusion (“Einschluss”, also eine Art Gefangennahme – die Verwendungshäufigkeit dieses Wortes hat sich in den letzten 10 Jahren verfünffacht) betrieben werden soll, wer jetzt wieder “gecancelt” werden muss usw. usf. Die sich hier entfaltende Kreativität bei der Entdeckung der wirklich wichtigen Themen und Probleme der Menschheit auf diesem Planeten ist außerordentlich beeindruckend. Aber so beeindruckend diese Schöpfungsfreude auch erscheinen mag, Political Correctness ist doch nur “ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft”. Territorien, die sie einmal besetzt hat, gibt sie nicht mehr her. Ihre Methode ist die langsame Strangulation, die von auto-kannibalistischen Masochisten vorangetrieben wird, um nach außen hin als Sadismus in Erscheinung zu treten. Sie lieben, was sie selbst zu bekämpfen vorgeben: Die Vorverurteilung. Auf diese folgt dann nur noch die rasche Exekution.
Als eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Leszek Kołakowski “My Correct Views on Everything” (2005). Der Titel ist natürlich nur mit einem Augenzwinkern geschrieben und meint das Gegenteil von dem, was er wörtlich genommen zu meinen scheint. Wir alle sind fehlbar, niemand hat immer Recht. Wer vorgibt, Gutes zu tun, tut es deswegen noch nicht wirklich, und wer einmal fehltritt oder in Sünde fällt, darf deswegen noch nicht auf ewig verdammt werden.
ArnoAbendschoen - 03.02.2021 um 22:02 Uhr
Uneingeschränkte Zustimmung. Text auch gut formuliert.
In diesen Kontext gehört die Klage des Historikers Ulrich van der Heyden (FU, HU) vorgestern in der "Berliner Zeitung" ("Das Gerede von der kolonialen Verdrängung ist ein Märchen"). Er kritisiert die Vergabe staatlicher Gelder in Berlin an pseudowissenschaftliche Zirkel und deren Aktivitäten. Den Schluss zitiere ich hier, da er sich mit praktischen Folgen des von dir kritisierten Zeitgeists beschäftigt:
"Denn wer mit verfälschenden Argumenten, trotz Einspruch von vielen Betroffenen und Fachleuten, etwa Straßenumbenennungen fordert, für die es aus wissenschaftlicher und politischer Sicht keine Begründungen gibt, und die eine Minderheit dennoch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versucht, wird auch historische Denkmäler stürzen. Wer das macht oder gutheißt, wird – so ist zu befürchten – keine Hemmungen haben, an den vandalistischen Taten zur Beschmutzung und Beschädigung kultur- und kunsthistorisch und musealer wertvoller Objekte teilzunehmen, oder daran nichts Verwerfliches finden.
Daraus kann folgen, wie eine Studie des Allensbach Instituts aus dem Jahr 2019 festgestellt hat, dass zunehmend in bestimmten Kreisen gefordert wird, Bücher, die nicht die politische Überzeugung von jenen Menschen widerspiegeln, aus den öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken zu entfernen. Deshalb wehret den Anfängen!"
ArnoAbendschoen - 03.02.2021 um 22:45 Uhr
Noch ein Link zum Thema:
https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/
Kenon - 04.02.2021 um 23:38 Uhr
Traurig, dass es so eines Manifestes bedarf. Ich kann mir vorstellen, dass es an den Universitäten häufig um Ränkespiele geht: Arbeitsstellen dort sind schließlich rar und begehrt. Wer den Zeitgeist beleidigt, liefert seinen Gegnern gute Argumente, die zur eigenen Entsorgung führen können.
Von den Unterzeichnern kenne ich nur Baberowski und Pfaller. Baberowski hielt die Eröffnungsvorlesung, als ich an der HU Berlin anfing, u.a. Geschichte zu studieren, begeistert hat er mich nicht; Pfaller ist ein interessanter Kritiker der Political Correctness und der Bologna-Reform, die ja praktisch eine Niederdrückung der Universität auf Schul-Niveau war. Leider hat ihn sein latenter Anti-Amerikanismus dazu verleitet, putinistische Positionen zu vertreten.
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