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-- Medienkritik & Kommunikation
--- Neue Wörter braucht das Land

Kenon - 02.02.2021 um 20:06 Uhr

Der moderne Befindlichkeitsfetischismus lehrt uns, dass wir die Worte, die wir gewohnheitsmäßig benutzen, misstrauisch hinterfragen müssen. Am besten natürlich alle. Meist scheinen Worte harmlos zu sein, aber wenn man sie ein paar mal hin und her gewendet hat, tief in sich geht und dann noch ein bißchen tiefer, sieht man bereits viel klarer: Viele Worte sind tatsächlich ungeheuer bösartig und gefährlich, sie können Menschen verletzen, gerade diejenigen, mit denen man noch nie etwas zu tun hatte aber von denen man trotzdem ganz genau weiß, wie sie empfinden. Deswegen muss man bei der Wahl seiner Worte immer achtsam sein. Als untauglich ausgemachte Worte müssen weichgespült oder durch bessere Worte ersetzt werden. Schnell hat man dann einen schönen Austauschwortschatz beisammen, den man auf wachsenden Listen eintragen kann bis sich ein ganzes Wörterbuch ergibt: “Deutsch — Schönes sauberes Deutsch”. Das ganze erfordert natürlich etwas Disziplin, aber man darf nie vergessen: Es ist für einen guten Zweck. Er besteht in nichts weniger als der Befreiung der Menschen von schädlicher Sprache. Befreiung ist ja immer gut, oder?

Sehr wichtig ist auch, sein Umfeld zu ermahnen, wenn man es dabei erwischt, wie es statt der neuen besseren Worte weiterhin die alten gebraucht. Es ist unabdinglich, darin nie nachzulassen, dann schleift es sich irgendwann ein. Sprache verändert sich eben — wenn man lang und heftig genug nachhilft. Nicht jeder will es gleich lernen. Da ist etwas Ausdauer gefragt, manchmal natürlich auch Sanktionen.

Ich habe vor kurzem endlich selbst ein böses Wort ausgemacht. Es steckt zum Beispiel in dem Satz: “Du bist mein Sonnenschein”. Entschuldige das kleine Rätsel, aber als Leser, der sich auf der Höhe unserer schönen Zeit befindet, wirst Du sofort erkannt haben, dass es um den “Sonnenschein” geht. Jahrhunderte haben die Menschen nicht genug nachgedacht und das Wort “Sonnenschein” einfach so geschrieben, wie es hier steht: “Sonnenschein”. Was für eine trügerische Harmlosigkeit! Man kann nicht einfach so auf traditionelle Weise “Sonnenschein” schreiben, wo wir ja wissen, wie gefährlich der Sonnenschein sein kann. Er führt zu Sonnenbrand, kann Hautkrebs auslösen, bei zu viel Sonnenschein und zu wenig Wasser dehydrieren Menschen, Tiere und sogar Pflanzen. Außerdem diskriminiert der Sonnenschein den Mondschein, er verdeckt ihn ja regelrecht. Dieser dahingeschriebene Sonnenschein hat es also wirklich in sich, aber die veraltete Schreibweise gibt es überhaupt nicht wieder. Das muss geändert werden — und zwar sofort. Um auf all die Gefahren aufmerksam zu machen, die vom Sonnenschein ausgehen können, lege ich fest, dass er fortan “Sonnensche!n” geschrieben werden muss — und das selbstverständlich von jedem, sonst werde ich ziemlich sauer. Das Ausrufezeichen wird uns mahnen, nie zu vergessen, dass der Sonnensche!n fürchterliche Folgen haben kann. Ich zeige es noch einmal am oben schon angeführten Beispielsatz: “Du bist mein Sonnensche!n”. Großartig. Ich fühle bereits, wie ich die Welt dadurch besser gemacht habe. Komm, mach mit, mach es nach! Wir befreien die Menschen durch eine einfühlsamere Sprache.

Ich freue mich wirklich schon auf das nächste Wort, das ich — wenn nicht gleich ersetzen — so doch erheben kann. Viele neue Wörter braucht das Land. Viele neue Wörter.




ArnoAbendschoen - 02.02.2021 um 22:10 Uhr

Bin wie immer auf diesem Feld an deiner Seite und nehme auch gleich mal Anstoß, und zwar an "kugelrund". Unerträglich und diskriminierend sowohl gegen alles Unrunde und nicht der vermeintlichen Idealform Kugel Entsprechende wie gleichzeitig auch herabsetzend gegenüber allen und allem Rundlichen. Unverfänglich könnte sein: "formvollendet". Dafür kann sich jeder selbst halten und außerdem jedes irgendwie Geformte so bezeichnen. Es wird immer passen. Ebnen wir alle Bedeutungsunterschiede ein!

Eine Realsatire aus der Schweiz und aus dem gleichen Geist war vor Jahren die Umbenennung der altehrwürdigen "Kantonalen Arbeitserziehungsanstalt Uitikon" in "Maßnahmenzentrum Uitikon". Hat sich inhaltlich viel verändert? Sie wenden jetzt "Konfrontative Pädagogik" an - klingt reformistisch energisch. Die Eckpfeiler - so nennen sich die Grundsätze - wirken wuchtig: Grenzen setzen und so ... Aber dann: "Ansatz arbeitet, ohne Zustimmung des zu Erziehenden, nicht konfrontativ." Dann eben keine Maßnahmen im Zentrum Uitikon.

Nur weil ich gerade hier bin zwei herrliche Genderstilblüten, von Tagesspiegel-Lesern gefunden und präsentiert: "Marschierende Studierende" und "Tote Radfahrende". Mein Deutschlehrer früher hätte das so kommentiert: "Du hast so viel Sprachgefühl wie eine Asiatische Sumpfschildkröte!"




Kenon - 02.02.2021 um 23:35 Uhr

Ja, die "toten Radfahrenden". Die sind herrlich. Ich hatte sie hier neulich schon mal in einem anderen Beitrag angeführt. Ich hatte sie "im" Spiegel gefunden, natürlich nicht als erster. Ist das noch Ernst von manchen Redakteuren - oder bereits leiser Protest, indem sie absichtlich solche Stilblüten produzieren und den herrschenden Sprachgeist damit lächerlich machen?

Auf der Arbeit sind wir jetzt alle nur noch die "Mitarbeitenden". Das hört sich schön temporär an, nach nichts von Dauer. Leute, die krank oder im Urlaub sind, sind die "abwesenden Mitarbeitenden", denn auch wenn sie abwesend sind, arbeiten sie natürlich weiter mit.

Mit formvollendeten Grüßen!




Kenon - 19.10.2021 um 21:59 Uhr

Gestern sah ich den Film "Deutschstunde" (2019) und musste mich wieder an diesen Text hier erinnern, als es darin hieß ein Sonnenuntergang sei "eine brandgefährliche Sache". Worum ging es dabei? Um ein Bild, das der kleine Siggi von Jepsen gemalt hatte, das aber dem mit Malverbot belegten Künstler Nansen zugeschrieben wurde, der deswegen von Siggis fürchterlichem Vater den Vollzugsorganen des Dritten Reichs gemeldet wurde ...



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