- versalia.de
-- Aesthetik
--- Permanent Residence - Film von Scud (Hongkong)
ArnoAbendschoen - 01.02.2021 um 11:19 Uhr
2009 kam „Permanent Residence“ auf den Filmmarkt. Danny Cheng Wan-Cheung aus Hongkong, der sich als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Scud nennt, bezeichnet sein Werk als semi-autobiographisch. Tatsächlich folgt die Hauptfigur Yvan (Sean Li) den Lebensstationen des Filmemachers: Geburt und Kindheit in Kanton, als Dreizehnjähriger mit den Eltern nach Hongkong übergesiedelt, nach der Schule zwanzig Jahre in der IT-Branche tätig, dann Ausbildung für die Filmproduktion, mehrjähriger Aufenthalt in Australien, Rückkehr nach Hongkong. Yvan führt auch Scuds realen Familiennamen Wan = Wolke und stellt sich auf einer Party Fragen von Reportern nach Scuds Filmprojekten, als wären es die eigenen. Wie viel Raum bleibt da noch für eine nichtautobiographische Hälfte?
Den Schwerpunkt der Handlung bildet die enge, tragisch verlaufende Beziehung des schwulen Yvan zu dem heterosexuellen Windson (Osman Hung), ein gelegentlich vorkommender Sonderfall starker Anziehung zwischen zwei Männern. Sie ist von Anfang an wechselseitig. Dabei ist Yvan, obwohl auch unter der Problematik leidend, im Vorteil. Er ist eins mit seinem sexuellen Begehren, das seiner Identität entspricht. Er kann sich mit dem Verzicht auf körperliche Liebe eher arrangieren als Windson, der zwangsläufig auf der Stufe des erfolglosen Begehrens nach dem Begehren verharrt. Yvans Sehnsucht ist fast eine Art Glück, lässt ihn produktiv werden. Windsons Zerrissenheit treibt diesen nach Ablauf einer Reihe von Jahren, mit vorübergehender Trennung, zum Suizid.
Scud genießt in Asien den Ruf eines Skandalregisseurs, er wird mit seinen Filmen zum Teil auch bei uns so vermarktet. Das liegt vor allem an seiner Vorliebe für explizite Nacktszenen. Dabei ist „Permanent Residence“ alles andere als pornographisch. Sexszenen kommen nur ausnahmsweise vor und bleiben knapp in der Ausführung. Scuds Interesse an Nacktheit ist in seinem umfassenderen, auf Grundbedingungen menschlicher Existenz ausgerichteten begründet. Er will so den Menschen als dem Schicksal ausgeliefert und ohne die Zutaten von Moden und Verkleidungen zeigen. Als übergreifendes Thema des Films nennt er „the limits of life“. Dieses stark ontologische Interesse beginnt mit der Frage nach Entstehen und Ausdehnung des Universums und geht über zu der, welche Bedeutung und Erfüllung das Leben des Individuums haben kann. Bei der Liebesgeschichte wie bei den weiteren Handlungssträngen geht es immer auch um Ethisches und Spirituelles. Die Frage nach dem Verhältnis des Lebens zum Tod durchzieht den gesamten Film wie ein Leitmotiv. Scud sagte 2017 in einem Interview: „I am not religious but a theist.” Magisches Denken wird thematisiert, Surreales kommt vor und die extremen Zufälle sind nicht Fehler eines ungeschickten Drehbuchs, sondern dem geistigen Hintergrund geschuldet. Bei der Umsetzung verwendet Scud durchgehend eine Bildsprache von großer Kraft und Schönheit. Sehr beachtlich sind auch die Leistungen der Schauspieler.
Eine andere Ebene der Interpretation ist die zeitgeschichtliche und ökonomisch-soziologische. Yvan führt seit seiner Schulzeit Tagebuch und bezieht sich darin auf große wie kleinere aktuelle Geschehnisse, einen Flugzeugabsturz, Nine-Eleven, den großen Tsunami, einen Börsenkrach, Aufstieg und Fall des Boxers Tyson, den Selbstmord des Schauspielers Leslie Cheung … Der Film führt dieses Tagebuch prophezeiend fort bis ins Jahr 2047. Nun stirbt Yvan, er legt sich mit einundachtzig in den Sarg, den er seit Jahrzehnten zu Hause bereithält. Dabei wieder ein exaktes, eindringliches Bild: Yvan zieht den Vorhang zu, der Blick auf die Skyline von Hongkong verschwindet. 2047 ist das Jahr, in dem Hongkongs Autonomie enden wird. Scuds Film ist auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt im 20. und 21. Jahrhundert und Hongkong selbst kommt mit Wohnungen, Häusern, Straßen und der herrlichen Natur auf seinem Territorium immer wieder detailliert ins Bild. Andere Schauplätze des Films sind Festlandchina, Israel (Jerusalem und das Tote Meer), Australien und ein Club mit Sado-Maso-Show in Japan.
Beziehungsreich und in seiner Aussage nicht leicht entschlüsselbar ist der Titel, der sonst im Englischen einen aufenthaltsrechtlichen Status beschreibt. Man mag hier eine Anspielung auf die Rechte von Minderheiten sehen. (Im Film spielt in diesem Zusammenhang die Mutationstheorie eine Rolle.) Die DVD für den deutschsprachigen Markt - Original mit Untertiteln - nähert sich auf dem Cover der tieferen Bedeutung so an: „Für immer verbunden“. Das dürfte der transzendenten Tendenz des Films entsprechen. Schließlich hat schon Josh (Jackie Chow), Freund von Yvan in Tel Aviv, beim gemeinsamen Baden im Toten Meer gesagt: Du hast Liebe erfahren, das bleibt dir, was sollte mich da dein Tod kümmern? Zum surrealen Schluss mit Josh erscheint als Motto auf einer Holztafel, als abschließendes Versprechen in diesem großen Wurf von Film: „Nobody will be alone.“
Ist dem Rezensenten eine persönliche Notiz erlaubt? Er war mehr als überrascht, im Werk eines als Hongkonger Skandalfilmer Angezeigten so viele Parallelen zu eigener Biographie wie Motivation zu entdecken: die Bedeutung der Großmutter, der Stadt-Land-Dualismus, das frühe Interesse für die Existenz des Individuums im sich seiner wahren, vollen Erkenntnis entziehenden Universum, die Bedeutung des Tagebuchs, die Dominanz des Autobiographischen, die Gleichgeschlechtlichkeit und die Neigung zu asexuellen Beziehungen … So viel Übereinstimmung kann mein Urteil beeinflusst haben. Ja, die Reaktionen auf Scuds Filme gehen oft stark auseinander.
URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=6136
© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz //
versalia.de