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ArnoAbendschoen - 21.10.2020 um 22:48 Uhr
In meinen Papieren finden sich einige Briefe, die mir mein Großvater als sehr alter Mann zukommen ließ. Er fing die Korrespondenz erst an, als die Großmutter infolge eines Augenleidens nur noch schlecht lesen und schreiben konnte. Immer noch schrieb er klar und fehlerfrei. Wir standen uns nie sehr nahe, ohne dass Abneigung vorgelegen hätte. Mein Großvater nahm die Welt noch zur Kenntnis, aber schon lange nicht mehr an ihr teil. Erregen konnte er sich über Jahrzehnte Zurückliegendes, allem Aktuellen gegenüber verhielt er sich fast immer neutral. Als gebildeter Autodidakt hätte er mir Vorbild, Autorität sein können, aber er lebte unter uns nur wie ein Monarch im Exil: entsagend.
Von seinem Schwiegersohn, meinem Vater, bekam ich nie einen Brief, er ließ immer die Mutter schreiben. Dabei hätte er sich ebenso gut schriftlich ausdrücken können wie sie. Ich frage mich, ob ich wenigstens seine Unterschrift irgendwo aufbewahrt finde, und entdecke sie auf einer Fotokopie des Erbvertrags. Der Notartermin war mitten im Krieg, Jahre vor meiner Geburt, und mein Vater war vielleicht zum letzten Mal auf Fronturlaub, vor der langen Gefangenschaft im Osten. Sein Namenszug auf dem Dokument klafft seltsam auseinander. Er beginnt bei Vor- und Nachnamen jeweils als korrekte, normalgroße Schönschrift und wird ab der Mitte zu übergroßem Gekrakel. Unangenehm berührt gestehe ich mir ein: Meine Unterschrift fällt heute recht ähnlich aus.
Ich glaube mich zu erinnern, dass er in meiner Jugend anders unterschrieb, graphologisch souveräner, seiner selbst sicher scheinend. Musste er damals nicht meine Oberschulzeugnisse abzeichnen, zweimal im Jahr? Oder zeigte ich sie ihm nur, da er es verlangte? An jene Momente zu denken, bereitet mir kein Vergnügen, sie gehörten zu den misslichsten im ganzen Jahresablauf. Dabei konnten meine Zeugnisse sich sehen lassen. Überaus peinlich waren nicht die Noten, es war der Versuch meines Vaters, sich bei diesem Anlass den Anschein eines kompetenten Erziehungsberechtigten zu geben – und noch mehr meine hilflose Reaktion darauf. Er lobte etwa zwei Sehr gut und ich erinnerte mich, dass ihm mein ausgeprägtes Interesse für Literatur und Geschichte sonst nur suspekt war. Dennoch tat ich jetzt so, als wäre ich über sein Lob erfreut, dessen unsichere Motivation ihm ins Gesicht geschrieben stand, wie auch mir meine wahren Gefühle. Wir spielten beide unsere Rollen schlecht und wussten es voneinander. Er fühlte sich zur Nachfrage verpflichtet, wenn die Benotung sich hier und da verschlechtert hatte, und ich mochte ihm nicht erklären, wie sich Stundenausfall oder persönliche Animosität zwischen Lehrer und mir darin widerspiegelten. Ich wurde so einsilbig, dass er mich rasch mit dem Wunsch entließ, ich möchte ihm weiter mit so guten Zeugnissen Freude machen.
Mein Vater und ich und die Schule, das war ein magisch-unheilvolles Dreieck. Ich hoffte, er wüsste nicht, dass ich es erfahren hatte: Jahrzehnte vorher war er schon bei der Aufnahmeprüfung für jene Anstalt gescheitert, die ich so glatt durchlief. Wenn ich nach einer solchen Präsentation in meinem Zimmer ankam, fühlte ich mich schuldig. Mein Verhältnis zum Vater war schlecht, das kam mir unnatürlich vor. Wir sprachen kaum miteinander und wenn wir es versuchten – er fing selten damit an, ich nie -, so kamen wir einander nicht näher, sondern spürten nur Irritation. Unter meinen Schulkameraden und deren Vätern hatte ich leuchtende Gegenbeispiele vor Augen. Die, denen es ging wie mir, sprachen so wenig wie ich darüber. Heute weiß ich, dass das nicht selten ist: Zwei nahe Blutsverwandte leben unter einem Dach und sind sich fremd und müssen es bleiben, aufgrund der Kluft zwischen den Generationen, den Bildungsgängen, den Perspektiven für die Zukunft oder den sexuellen Präferenzen. Ich musste sehr weit fortziehen und selbst ganz anderes als er durchleben, um ihn bei meinen seltenen Besuchen daheim voller Mitleid betrachten zu können. Sein Leben war durchweg mühselig und enttäuschend gewesen. Ihn betrachten und verstehen, ja, zum Reden kam es kaum einmal.
In Bodo Kirchhoffs „Mexikanische Novelle“ sagt einer, verletzt bei einer Mordattacke, sterbend zu dem geliebten Journalisten, der über ihn berichten will: „Schreib schön.“ Als allerletzte Lebensäußerung ist das aus der Perspektive des Opfers gesehen so kitschig erzählt wie aus der des überlebenden Autors und Freundes nur lebenswahr. Manches, das wir geschrieben haben, möchten wir den Toten hinter diesen Texten vorzeigen wie unsere Zeugnisse damals und schüchtern fragen: Habe ich nicht schön geschrieben? Die Toten, nun ganz verwandelt ihr früheres Leben in reine Zeichen, bleiben stumm.
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