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--- Alois Brandstetter - Die Mühle (Roman)

ArnoAbendschoen - 18.05.2020 um 17:32 Uhr

1981 - vier Jahre nach dem Vorgängerroman „Die Abtei“ – erschien Alois Brandstetters „Die Mühle“. Beide Werke verbindet einiges und trennt auch manches. Formal handelt es sich jeweils um den Bericht eines Ich-Erzählers, der für einen speziellen Empfänger geschrieben wurde und in dem Geschicke weiterer Personen referiert werden. Beide Romane beginnen mit der engagierten Betrachtung eines Rechtsfalles – einmal der Diebstahl eines wertvollen Kelches, zum andern die amtliche Untersuchung der umstrittenen Baumaßnahme eines Müllers – und verlieren allmählich das Interesse an dessen weiterer Darlegung. An ihre Stelle tritt zunehmend umfassendes Erinnern und Erörtern mit Tendenz zum Enzyklopädischen. Während „Die Abtei“ sich in Tonfall und Stoßrichtung an barocken Bußpredigten à la Abraham a Sancta Clara orientiert, sucht „Die Mühle“ die Nähe zum Entwicklungs-, ja zum Erziehungsroman. „Der Nachsommer“ von Stifter lässt grüßen, auf ihn wird auch im Text Bezug genommen. Die Freude am mäandernden Erzählen und abschweifenden Reflektieren, die schon im älteren Werk ausgeprägt war, wird vom jetzigen Erzähler mit der Arbeitsweise von Mühlen verglichen: „Nimm diesen Mangel als Tugend und als ein Abbild des Mahlens, wo ja auch das Mahlgut öfters über die Walzen geht … Laß mich also … noch einmal aufschütten und nachgießen. Habe ich auch schon einen Teil ausgesondert und abgezogen, so wollen wir doch den verbleibenden Rest in einen weiteren Gang schicken, um noch mehr herauszubekommen; es soll alles noch feiner werden.“

Der Erzähler ist ein in einem Altersheim lebender verwitweter und wohl auch kinderloser früherer Müller und Berufsschullehrer. Er schreibt für seinen Neffen, dem er vor geraumer Zeit die Mühle überlassen hat. An ihn will er möglichst viel vom eigenen Wissen und von gespeicherter Erfahrung weitergeben. Die dritte Hauptperson ist der längst verstorbene Onkel des Erzählers, auch er seinerzeit Betreiber jener Mühle an dem fiktiven oberösterreichischen Fluss Endach. Mit der launigen Charakterisierung dieses kauzigen Onkels beginnt der Text, kehrt später gelegentlich zu ihm zurück. Breiten Raum nehmen die Erinnerungen des Erzählers selbst ein, an seine Arbeit in Mühle und Schule, an Kollegen und Schüler, an Reisen und Lektüre. Recht blass bleibt der Empfänger des Berichts. Auf ihn richten sich die Hoffnungen seines Onkels. Er ist die noch offene Zukunft, der Erzähler die noch einmal alles zusammenfassende Gegenwart, der ältere Onkel die abgeschlossene Vergangenheit. Wir haben es also mit einer doppelten Onkel-und-Neffen-Geschichte zu tun, in der sich fast ein Jahrhundert Mühlen- wie Familiengeschichte spiegelt. Die Mühle an sich scheint darin nicht allein altes, existenzsicherndes Handwerk zu sein, sie ist zugleich Sinnbild für menschliche Kultur und Tradition schlechthin.

Unübersehbar ist die Menge an Themen, die nacheinander abgehandelt werden oder ineinander verwoben aufscheinen, etwa aus Hydrologie, Biologie und Mühlentechnologie. Wo sonst liest man in Romanen von Sicherheitskupplungen, Trennschutzschaltern und Fallbügelreglern? Es geht auch um Leben und Werk von Rembrandt, Sohn eines Müllers (wie Brandstetter selbst). Oder ums Mühlensterben, um Suizide, verschmutztes Mahlgut, Sitten und Unsitten der Bauern. Ein starkes Interesse an Etymologie ist unübersehbar. Der Sinn von Geschichtsbetrachtung wird kurz, eingehender eine Maschinentheorie erörtert, Querverbindungen zu Leibniz und Kant gezogen, Marc Aurel, Karl Marx und Seneca werden zitiert. Und … und …

Und es ist nicht ermüdend. Der Autor Brandstetter verfügte hier über ebenso viel sprachliche Ausdruckskraft und Assoziationsvermögen wie breites Fachwissen. Etwas gemildert gegenüber „Die Abtei“ erscheinen konservative Grundhaltung und Zeitkritik. In summa: nach fast vierzig Jahren noch immer ein mit geistigem Gewinn und ästhetischem Vergnügen gut lesbares Werk.




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