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--- Berliner Tagebuch, 15.03.2020 - Zurück im Büro

Kenon - 15.03.2020 um 17:11 Uhr

Liebes Tagebuch,

am Freitag bin ich wieder zur Arbeit gegangen, obwohl ein Großteil der Firma seit Dienstag im Homeoffice ist. Im wesentlichen hatte dies drei Gründe:

1) mein Arbeitsplatz zu Hause ist nicht besonders ergonomisch und schon am dritten Tag hat sich der Rücken wieder bemerkbar gemacht

2) ich hatte ein Gespräch mit meinem Vorgesetzten, das ich nicht unbedingt über einen Videochat führen wollte; diese Technologie fühlt sich für mich noch fremd und sehr unpersönlich an

3) ich hatte bereits Sehnsucht nach meiner gewohnten Umgebung, die sich natürlich gar nicht wie gewohnt darstellte, da fast alle Kollegen zu Hause geblieben waren; vielleicht war es auch der Wunsch nach einem erneuten Abschied - zumindest von den Räumlichkeiten

Natürlich kann man hoffen, aber das hier wird nicht in drei bis vier Wochen zu Ende sein. Es ist ein existentieller Riss, der sich gerade auftut. Es gab ein Leben vor Corona, und für viele Menschen wird es auch ein Leben neben und vielleicht sogar nach Corona geben, möglicherweise selbst für mich, aber es wird anders sein als das, was man bisher kannte. Nichts ist mehr gewiss, außer, dass es vorerst um das Überleben geht, des Einzelnen und der Gemeinschaft(en) - sofern es sie gibt.

Manch einer mag sich damit trösten, dass er jung ist und er sehr unwahrscheinlich tödlich erkranken wird, vielleicht aber täuscht er sich auch. Wenn er unvernünftig handelt und die Gebote der Stunde missachtet, ist er auf jeden Fall eine Gefahr für die Menschen, die ihm begegnen. Wer weiss schon von anderen, wie stabil ihr Immunsystem ist und ob sie vielleicht an einer chronischen Atemwegserkrankung leiden? Wer weiss von sich gerade jetzt, dass er vollkommen gesund ist und niemanden anstecken könnte?

Die Menschen haben Angst. U- und S-Bahnen waren am Freitag bereits viel leerer als sonst. Brav haben die Menschen in der U-Bahn Abstand gehalten, immer einen Leerplatz zwischen sich und den Nachbarn, was natürlich nur etwas besser als nichts ist. Jedes Husten erschreckt die Leute. Man möchte die Türknöpfe nicht mehr anfassen und wartet, bis sich jemand anderes dafür opfert, obwohl zumindest die S-Bahn auch automatisch öffnen könnte. Notfalls fährt die Bahn ohne einen weiter.

Man muss sein Leben neu organisieren. Die Freizeitmöglichkeiten sind stark eingeschränkt, es gibt keinen Fußball zur Ablenkung, man kann kaum noch irgendwohin reisen - und wenn ja, was sollte man dort tun? Menschen, denen es davor schon nicht gut ging, werden tiefer in ihre Depressionen gezogen und könnten daran zerbrechen. Man darf sich nichts vormachen: Wir leben in sehr schwierigen Zeiten und wissen nicht, wie es weitergeht. Wir können nur versuchen, vernünftig zu sein, damit es überhaupt weitergeht - und zwar so menschlich als möglich.

Dein K




ArnoAbendschoen - 15.03.2020 um 21:44 Uhr

Danke für diesen offenen und angemessenen Umgang mit dem Thema, vielleicht auch noch weitere Einträge? Mir erleichtert es die Situation etwas, wenn ich lese, wie andere sich auf sie einzustellen versuchen, ohne sich etwas vorzumachen.

Ja, existentieller Riss ... Ich habe vor drei Tagen Pläne komplett beerdigt, die mich fast ein Jahr stark beschäftigt hatten. Ich sollte Mitte April eine neue Wohnung übernehmen und sechs Tage darauf umziehen. Damit hing zusammen eine Reihe von Verträgen und Dispositionen, die ich jetzt lieber rückwärts abwickle, soweit möglich, statt in einem absehbaren Chaos zu landen. Zum Glück kann ich in meiner jetzigen Wohnung bleiben und werde mich zwangsläufig mit dem zu arrangieren suchen, was mich vorher zum Wechsel animierte.

Bleib gesund und erhalte uns Versalia.




Kenon - 15.03.2020 um 23:22 Uhr

Vielen Dank für Deine Rückmeldung und Ermunterung, Arno, die Einträge hier fortzusetzen. Es ist meinerseits der Versuch, mit der Situation fertigzuwerden, und wenn er anderen darüber hinaus auch irgendwie hilft, freut mich das sehr. Allerdings - das muss ich ganz ehrlich anmerken - ist es auch eine Gratwanderung: Das hier sind keine streng privaten Aufzeichnungen, in denen tatsächlich alles gesagt wird bzw. werden kann, der erste Eintrag ist absichtlich stilistisch noch etwas literarisiert. Aber schauen wir, wie und ob es weitergeht: Gibt es auch in den kommenden Tagen etwas zu erzählen, das nicht schon eine Wiederholung oder nur noch niederdrückend ist? Hoffen wir für alle das Beste, dass sie wie Du ihre Herausforderungen meistern können und dass sie - Danke, Du hast es mir ja bereits gewünscht - vor allem gesund bleiben.



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