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ArnoAbendschoen - 03.01.2020 um 22:36 Uhr

Schwindel. Übelkeit. Brechreiz. Ist es bei mir jetzt so weit? Wie seinerzeit Proust beim Besuch einer Ausstellung alter holländischer Meister, so erlitt auch ich eine Schwindelattacke; allerdings im Bett und gleich zwei innerhalb von sechs Tagen. Schwindel am Morgen bringt Kummer und Sorgen.

Der zweite Vorfall überraschte mich am Urlaubsort, in einer süddeutschen Pension, morgens beim Aufstehen. Drehschwindel, wie soll man das beschreiben? Man vollführt eine banale Bewegung und dann fliegen die Möbel scheinbar durch den Raum, wie die Elemente eines Kettenkarussells. Die einfachsten Verrichtungen wie Duschen und Ankleiden werden zu fast unlösbaren Aufgaben. Beim Rasieren überkam mich das große Würgen. Endlich konnte ich doch frühstücken und mit der Bahn in die nächste größere Stadt fahren.

Dreieinhalb Stunden verbrachte ich in jener HNO-Praxis. Warten, mich untersuchen und die Tests über mich ergehen lassen, die Ergebnisse besprechen. Ich war kein eingebildeter Kranker. Im Schwindeltest lag „die vestibuläre Erregbarkeit unter der Norm“. Der Doktor, in meinem Alter, mit schütterer Pferdeschwanzfrisur, erklärte mir: „Ihr Innenohr wird durch Schäden an der Halswirbelsäule nicht genügend durchblutet.“ Er entwickelte eine Theorie, wonach das Pensionsbett und die ungewohnte Lagerung meines vornehmsten Körperteils Schuld seien. Und richtig, schon der erste Anfall hatte mich in einem fremden Bett ereilt. (Ich fühle mich jetzt zu schwach, irrige Vermutungen über meinen Lebenswandel zu entkräften.)

Der Doktor lehrte mich eine Eigenmassage der Halswirbelsäule und verschrieb ein durchblutungsförderndes Mittel. Gegenwärtig zögere ich noch, es einzunehmen – wegen seiner häufigen Nebenwirkungen: Schwindel, Übelkeit. Hatten wir schon. Und die blutdrucksenkende Wirkung ist auch unerwünscht. Ich bin Hypotoniker, will nicht als lebende Leiche herumschleichen.

Ich bekam einen Arztbrief für die Heimat mit. Beim Lesen geriet ich ins Grübeln. Beide Ohren seien äußerlich o.B., also ohne auffälligen Befund. Da fiel es mir wieder ein: Er hatte mir zwar in Rachen und Nase gesehen, nicht jedoch in die Ohren. Oder sollte sich die bei mir vorliegende Mangeldurchblutung schon auf Gehirn und Wahrnehmungsvermögen ausgewirkt haben?

Ferner las ich: „Im Rachen Zustand nach TE.“ Das hieß doch Tonsillektomie, also Mandelentfernung. Tatsächlich sind mir die Mandeln bisher nicht herausgenommen worden. Mein lieber Weißkittel, das müsste ich doch wissen! Andererseits fielen mir jetzt so unschöne Dinge wie Demenz und progressive Paralyse ein. Kann ich mir wirklich sicher sein, meine Mandeln noch zu besitzen? Mache ich mich lächerlich, wenn ich wegen dieser Schwindel erregenden Frage einen weiteren Arzt aufsuche?

Ich zweifle, also lebe ich noch. Ich zweifle jetzt besser an allem.

(Nachtrag: Ich habe in einem Vergrößerungsspiegel nachgesehen: Sie sind noch da.)




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