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--- Günter Kunert lesen: Verspätete Monologe

ArnoAbendschoen - 26.10.2019 um 12:12 Uhr

Das Jahr 1979 war der Wendepunkt in Günter Kunerts Leben. Der bis dahin recht erfolgreiche, zuletzt in Opposition zur politischen Führung stehende fünfzigjährige Ostberliner Autor konnte ausreisen und siedelte sich in Schleswig-Holstein neu an. Dort, im kleinen Kaisborstel bei Itzehoe, blieb er bis zu seinem Tod im September 2019, immer neue Lyrik- und Prosabände veröffentlichend.

1981 kam „Verspätete Monologe“ heraus, formal ein Band Kurzprosa, die als „Reflexionen“ untertitelt waren. Die 152 Texte kreisen oft um jenen Umbruch in Kunerts Biographie oder lassen zumindest Spuren davon erkennen. Man erhält als Leser so das Bild eines Autors, dessen geistiges Profil endgültig während der großen Krise in seiner Lebensmitte geformt wurde. Es finden sich neben Erinnerungen und aktuellen Erlebnissen und Begegnungen vor allem Gedanken zur Zeit, zur Geschichte, zur Situation des Menschen in der Gegenwart oder zu seiner Existenz überhaupt. Erkennbar bildet die Sammlung Gruppen verwandter Texte, die jedoch nicht scharf voneinander geschieden sind, oft thematisch einander berühren.

Am eingängigsten sind jene Texte, in denen sich Kunerts persönliches Schicksal oder seine konkreten Erfahrungen im Alltag widerspiegeln. Sie sind anschaulich verknappt und oft mit Vergnügen lesbar. Der große Pessimist Kunert scheint hier insgeheim zu schmunzeln und gönnt sich und dem Leser die eine oder andere Prise makabren Humor, so z.B. in „Etwas für Herodot“. Es rapportiert eine leicht absurde Herrenbekanntschaft, vielleicht mit einem Spitzel, im Sanitärraum des Hotels „Unter den Linden“. In „Unbesonnte Vergangenheit“ blickt Kunert auf ähnliche Weise zurück auf einen Lehrgang für Nachwuchsautoren 1950. Er war so unproduktiv wie für einige Teilnehmer in der Konsequenz fatal. „Menschenbild“ zeigt einen Frankfurter Taxifahrer: sympathisch, an Literatur interessiert und alle Welt für korrumpierbar haltend will er Kunert zum Steuerbetrug anstiften.

Im Verlauf der weiteren Lektüre ermüdet man gelegentlich doch, zu apodiktisch sind die Ausführungen oft, zu Kurzschlüssen verführt von den Chancen glanzvoller Kurzprosa, auch häufig einseitig theorielastig, dann wenig anschaulich, dafür artifizielle Verallgemeinerungen im Übermaß enthaltend. Und ein Verdacht entsteht: Hat Kunert seine Desillusionierung vom Osten mitgebracht und dann ins Universale ausgeweitet? So viel Pessimismus kann beim Leser wiederum Skepsis auslösen.

Dennoch findet sich in diesem umfangreichen Lesebuch, behandelnd so viele unterschiedliche Fragen und Stoffe, bis zur letzten Seite immer wieder großartig Formuliertes. Diese Stellen sind es, die Kunerts Format belegen, die Lektüre lohnen. Dafür zum Abschluss hier einige zufällig ausgewählte Beispiele:

Seine knappe Analyse der späten DDR: „ … in einer stagnierenden, jede autonome und individuelle Handlung kriminalisierenden Gesellschaft …“

Beim Vergleich Mitteleuropa 1943 mit Kambodscha 1978: „ … die trostlose Vermutung, es gäbe vielleicht überhaupt keine Überzeugung, die ein Denken hervorbrächte, das sich der Mordbereitschaft verweigerte.“

Eine Kulturgeschichte ohne Größen wie Dürer, Beethoven, Einstein? Kunert: „Ein schmieriger Talg humanoider Provenienz, der jede nur denkbare Lücke ausfüllt, und sie wie nie gewesen erscheinen läßt.“ - Illusionen hat er sich jedenfalls nicht gemacht, dieser Autor, selbst von sehr beachtlichem Rang.




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