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--- Über eine Stelle bei Saul Bellow

ArnoAbendschoen - 29.05.2019 um 21:13 Uhr

In Saul Bellows großem Roman „Die Abenteuer des Augie March“, erschienen 1953, ist nebenbei ein kleiner Handlungsablauf eingewoben, bei dem ich mich frage: Liegt hier ein Subtext vor? Oder interpretiere ich die zwei, drei Szenen unabhängig von Bellows Intention allein aufgrund meiner eigenen Erfahrung? Oder kann es sein, dass der Autor einen Wendepunkt in Augie Marchs jungem Leben unbewusst so dargestellt hat, dass er etwas Allgemeingültiges auf plastische Weise, wenn auch verschlüsselt widerspiegelt?

Während der Weltwirtschaftskrise lässt Augie March, der aus Chicago kommt, sich einige Zeit quer durch die USA treiben. Er fährt wie so viele Arbeits- und Obdachlose damals schwarz auf Güterzügen mit. Eingepfercht in einem mustert er einmal die Männer in der Nähe kritisch und charakterisiert nur einen auf neutrale Weise: „Auf der anderen Seite saß ein stämmiger Junge.“ Die zahlreichen Schwarzfahrer werden auf einem kleinen Bahnhof vom Zug gejagt. Augie erzählt: „Der stämmige Junge – er hieß Stoney – schloß sich mir an, und wir gingen in die Stadt … Ich gab etwas von meinem Geld für Brot, Erdnußbutter und ein paar Flaschen Milch aus, und das war unser Abendessen …“

Die beiden übernachten anschließend in einem ausrangierten Güterwagen, der sich bald mit weiteren Landfahrern füllt. Einer macht sich an Augie heran, der sich mit Erfolg zur Wehr setzt. Dann: „ … und stieg über Körper dorthin, wo ich Stoney liegen gesehen hatte … mein Herz drohte, mir die Brust zu zersprengen: nicht vor Ekel, wie ich sagen muß, denn Ekel empfand ich nicht, ich empfand eine allumfassende Misere. Und ich legte mich neben Stoney nieder, der sich ein wenig aufrichtete, mich erkannte und wieder einschlief. Nur gegen Morgen war es zum Umkommen kalt; und ab und zu fanden wir uns eng aneinandergepreßt, Gesichter und Stoppeln reibend, und lösten uns wieder voneinander. Bis es zu sehr fror, um darauf Rücksicht zu nehmen, daß wir Fremde waren – wir schlotterten zu fürchterlich - und wir dicht zusammenrücken mußten. Ich zog meinen Rock aus und breitete ihn über uns beide, um die Wärme ein bißchen zusammenzuhalten …“

Die Abenteuer gehen weiter, als Augie zurück nach Chicago und Stoney mitnehmen will. (Stoney will weiter nach Nebraska, um Veterinär zu werden.) Einmal sitzen sie im falschen Güterzug und gelangen gegen ihre Absicht nach Detroit. Sie geraten dort in die Fänge der Polizei und müssen eine Nacht in einer überfüllten Arrestzelle verbringen. Am anderen Morgen sollen sie die Stadt auf dem kürzesten Weg verlassen. Sie benutzen dazu eine Straßenbahn … „und dabei passierte es, als der Schaffner mich anstieß, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Haltestelle zum Umsteigen gekommen sei, und ich `raussprang und ich dachte, Stoney wäre hinter mir, daß ich ihn dann noch am Fenster schlafen sah, als der Wagen mit den durch Preßluft geschlossenen Türen vorbeifuhr, und kein Gebumse an der Scheibe ihn zu wecken vermochte. Dann wartete ich eine gute Stunde, ehe ich bis zur Endstation, wo die Autostraße war, weiterfuhr. Dort blieb ich beinahe bis Mittag. Er dachte möglicherweise, daß ich ihn abgeschüttelt hätte, was nicht meine Absicht war. Ich war verzweifelt, daß ich ihn verloren hatte.“

Augie gibt dem Leser nacheinander Folgendes zu verstehen: An schwulem Sex war er nicht interessiert. Nur widrige Umstände führten zu harmlosem körperlichem Kontakt mit Stoney. Die beiden schlossen sich aus Not auf ihrer Odyssee zusammen und durch ein Missgeschick wurden sie getrennt. Der Verlust dieser nur knapp drei Tage alten Zufallsbekanntschaft löste bei Augie Verzweiflung aus – und genau hier stutzt der Leser. Steht noch mehr zwischen den Zeilen? Sichten wir noch einmal das ausgebreitete Material.

Augie March ist, wie sich aus dem weiteren Verlauf der Romanhandlung eindeutig ergibt, nicht homosexuell. Das Thema wird auf den noch folgenden gut 550 Seiten nicht mehr berührt. Die Episode in Detroit ist singulär und gleichzeitig, wie mir scheint, ein versteckter endgültiger Schlusspunkt. Aufschlussreich ist, wie Augie Stoneys Physis wahrnimmt: Er ist der „stämmige Junge“. Das Adjektiv wird auf wenigen Seiten dreimal verwendet. Seine Konnotation ist positiv gefärbt, da Stoneys jugendliche Erscheinung sich zu seinem Vorteil von den älteren Elendsgestalten abhebt. Bevor es zu dem engen Schlafen zu zweit kommt, schaltet Bellow die Übergriffe des anderen Mannes vor, von dem Augie sich belästigt fühlt. Er ist also entschuldigt, wenn er Stoneys Nähe in dieser Nacht sucht. Auf der anderen Seite erfolgt die körperliche Berührung zögerlich, da sie, wie es heißt, „Fremde“ füreinander, nicht da sie beide männlich sind. Bezeichnend ist auch, dass Augie erst dann seinen ursprünglichen Schlafplatz aufgibt, als der aufdringliche fremde Mann schon von ihm abgelassen hat, nun aber derbe misogyne Sprüche folgen lässt. Wie sehr Augie das Erlebnis innerlich aufwühlt, verrät die Formulierung: „ … mein Herz drohte, mir die Brust zu zersprengen …“

Einen Schlüssel gibt Bellow dem aufmerksamen Leser an die Hand, indem er Augie zum Morgen nach der Nacht, die er und Stoney im Detroiter Polizeigewahrsam verbracht haben, eine zunächst unmotiviert erscheinende biblische Assoziation in den Sinn kommen lässt: „Wenn es in der Nachbarschaft des Tobias, an dem Tag, als der Engel zu ihm kam, ein Polizeirevier gab, hätte es dort nicht anders ausgesehen.“ Aber wer entspricht dann in Detroit Tobias und wer dem Engel? Nun hat die Blindheit von Tobias’ Vater im Alten Testament ihre Parallele im Roman in der von Augies Mutter. Demnach ist Stoney für Augie der Engel. Denkt man an die Theorien über das Geschlecht der Engel und ihre Asexualität, erkennt man die tiefere Bedeutung der flüchtigen Stoney-Erscheinung für Augies Entwicklung. Der Engel Stoney ist für den jungen Augie ein Wunschbild und zugleich ein Abwehrzauber dagegen. Bellow scheint diesen Zusammenhang sehr bewusst gestaltet zu haben.

Abschließend der Versuch einer Interpretation des Gehalts hinter der Geschichte: Stoney vertritt für Augie eine Existenzform, die für ihn selbst nicht oder nicht mehr in Frage kommt. Augie wirft im Kontakt zu Stoney einen Blick auf sie, dabei erscheint sie als eine theoretisch mögliche, durchaus nicht abstoßende. Er sagt ja: „Ekel empfand ich nicht.“ Doch dieser Weg ist ihm verschlossen, sein Leben wird anders verlaufen. Das Zwangsläufige der Entwicklung – ein heterosexueller junger Mann vergewissert sich seiner eigenen Identität im Unterschied zu davon abweichenden anderen – ist hier übersetzt in eine äußere Handlung, die scheinbar nur auf ein banales Sichverfehlen hinausläuft. So gesehen ist schon die Tatsache, dass sie füreinander Fremde waren, nicht nur retardierendes Moment gewesen, sondern überhaupt erst die Voraussetzung für den nächtlich wärmenden Kontakt. Ein Prüfstein muss von anderem Material sein als die zu prüfende Substanz. Die Trennung in der Straßenbahn ratifiziert dann die unüberbrückbare Differenz zwischen einem potentiellen und dem real sich entwickelnden Schicksal. Der vertrauensvoll, schuldlos schlafende Stoney – er wird zweimal in dieser Position dargestellt – ist zum endgültig unerreichbaren Liebesobjekt geworden. Die schon in der ersten Nacht konstatierte „Misere“ ist jetzt absolut und führt zu Verzweiflung; es ist die über das unerbittlich Zwangsläufige auseinanderstrebender Entwicklungslinien. Bellows große Kunst erweist sich daran, wie er diesen inneren Konflikt auf eine unverfänglich erscheinende Bühne der Außenwelt verlagert.

(Zitate nach der Übersetzung von Alexander Koval)




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