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-- Prosa
--- Villa Julianka
ArnoAbendschoen - 02.04.2019 um 21:51 Uhr
Das Zimmer kam ihm bereits erträglicher vor als neulich bei der Besichtigung. Die Aussicht ging über einen steil abfallenden Garten bis auf den Grund des schmalen Seitentales, das vom Stadtzentrum heraufführte. Auch am Hang gegenüber standen vereinzelte Villen in großen Gärten. Die Stützmauer einer Ausfallstraße überragte dort an einer Stelle das Tälchen. Von da kamen auch die Motorengeräusche, das Bimmeln von Straßenbahnen. Wenn er den Kopf nach links wandte, sah er unten im Dunst des Talkessels einen kleinen Ausschnitt der inneren Stadt und darüber ihre nördlichen Randberge. Oh, es war doch schön hier! Und er war allein, war jetzt frei. Seine Leute, die ihn hergebracht hatten, waren schon auf der Heimreise.
Frau Julianka hatte das Zimmer für ihn neu ausmalen lassen. Tapeziert war es nicht. Und die Möbel? Sie kamen wahrscheinlich vom Trödler. Er verstaute seine Wäsche, seine Bekleidung in Schrank und Kommode. Wenn man sie altväterlich nannte, ließ sich vielleicht ein besseres Verhältnis zu ihnen gewinnen.
Er hielt sich kurz im Bad auf. Über der Wanne war eine große Menge Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Die vielen Schnüre sprachen von regelmäßiger Nutzung des Bades als Trockenraum. Er wird sich deswegen in Zukunft mit Frau Julianka abstimmen müssen.
Nach seinem ersten Stadtrundgang erschien die Vermieterin plötzlich im Hausflur und rief ihn an, als er schon auf der Treppe nach oben war. Sie habe noch einiges mit ihm zu bereden. Sie bat ihn in ihr Wohnzimmer. Es war ein großer, lichter Raum mit Fenstern nach zwei Seiten, ein Zimmer, so ganz anders eingerichtet als die Wohnräume, die er kannte. Es gab hier nichts Wuchtiges, nicht die heimatlichen Schrankwände, dafür Regale mit sehr vielen Büchern und noch mehr Schallplatten. Die Sitzmöbel standen nicht Parade, sondern schienen zwanglos im Raum verteilt. Sie boten sich unauffällig einer bequemen Nutzung an, falls man davon Gebrauch machen wollte. Es gab auch einen älteren Flügel und viele Pflanzen und eine Menge kleiner Kunstgegenstände zwischen Büchern und Platten.
Frau Julianka lud ihn zum Sitzen ein. Sie mochte Anfang sechzig sein und alterte bereits merklich, wenn auch mit Gleichmut, wie es schien. Sie war in nichts wirklich nachlässig, was ihre äußere Erscheinung betraf, doch wollte oder konnte sie offenbar keinen besonderen Aufwand treiben.
„So, Sie junger Mann und lieber neuer Hausgenosse – jetzt sind Ihre Leute fort und wir zwei können uns noch etwas besser kennenlernen. Wissen Sie, dass ich mich jetzt schon zum zweiten Mal ein wenig über Sie gewundert habe?“
„Worüber denn?“ Er fragte aus Höflichkeit zurück und verbarg vage Befürchtungen, die er sich selbst gegenüber am liebsten nicht eingestanden hätte.
Sie lächelte altfrauenhaft zart, bevor sie antwortete: „Darüber, dass Ihre Großmutter wieder mitgekommen ist. Wie neulich, als Sie gemietet haben. Sie wirken doch schon ganz erwachsen …“
Tatsächlich war die Großmutter am Tag der Zimmersuche im Zug mitgefahren, doch nur, um in der Großstadt staunend mit herumzugehen. Alle Entscheidungen hier waren allein von ihm getroffen worden. Er redete sich Frau Julianka gegenüber jetzt damit heraus, er sei ja noch nicht volljährig.
Seine Vermieterin lächelte erneut. „Ich werde Sie weiter so behandeln, als wären Sie es schon. Lassen wir also die alte Dame in Frieden heimfahren. Vielleicht hat ihr der Ausflug ja gut getan.“
Sie ließ sich seine beruflichen Pläne darlegen. Dass er langfristig bleiben wolle, hörte sie gerne. Dann bat sie ihn um einen gelegentlichen Gefallen. Es ging um die Heizung, und zwar diejenige ihres Wohnzimmers. Sie sei oft ein oder zwei Tage verreist, sagte sie, lasse hier aber den großen Kachelofen ungern ausgehen. Er sei nur mühsam wieder in Gang zu bringen. Sie friere nicht gern in der Übergangszeit.
„Im Herbst nehmen wir die Zentralheizung wieder in Betrieb. Dann werden Sie es auch oben immer warm haben. Aber jetzt ist es wohl nicht nötig. Nur hier am Garten, hinter den Bäumen, da wird es leicht kühl und feucht. Ich muss mich vor dem Rheuma in Acht nehmen.“
Dann führte sie ihn in den Keller, wo das Brennmaterial lag. Sie hatte ein besonderes System, ein Ofenfeuer auf die sparsamste Weise gerade eben am Leben zu halten. Stolz führte sie es ihm vor. Er sollte also eine genau festgelegte Zahl von Briketts zu einem Stapel formen und diesen mit mehreren Lagen Zeitungspapier umwickeln. Ein solches Paket ließ das Feuer lange genug weiterglimmen, wenn er es am Abend vor ihrer Rückkehr auf den Glutresten niederlegte. Sie ließ ihn selbst ein solches Paket zusammenstellen und war mit ihm zufrieden.
Zurück im Wohnzimmer erinnerte sie ihn an die Gartenarbeit. Ja, er hatte versprochen, sie bei gröberen Arbeiten draußen zu unterstützen. Das taten auch die anderen Untermieter, die zurzeit verreist waren.
„Und dass ich nachmittags oft Stunden gebe, hier genau unter ihnen, das wissen Sie auch noch?“ Es war ihm nicht entfallen.
„Sind Sie Gesangslehrerin?“
„Ja, auch, das heißt jetzt nur noch. Ich bin eigentlich Opernsängerin, ich war sogar an der Wiener Staatsoper. Es hätte weitergehen sollen, ich hatte schon einen Vertrag für Paris. Und dann, leider, dieses Brustleiden … Nein, machen Sie doch kein solches Gesicht. Ich bin schon lange darüber hinweg. Das Talent ist eine Gabe, die von oben kommt. Man versündigt sich, wenn man dem Himmel grollt.“ Sie sah jetzt mutig und fromm aus, eine wunderliche Mischung.
Er wollte sie für heute allein lassen. Als sie aufstand, um ihn hinauszubegleiten, sagte sie noch: „Ich singe gelegentlich immer noch. Sie werden es einmal hören. Aber jetzt sind Sie jung. Der Himmel hat sicher auch Ihnen etwas Besonderes mitgegeben. Machen Sie etwas daraus. Guten Abend und gute Nacht.“
Als Ben tags darauf zum ersten Mal von der Arbeit nach Hause kam, war die Wäsche aus dem Badezimmer entfernt. Er nutzte die Gelegenheit und duschte. Dann saß er in seinem Zimmer und schrieb drei Briefe. Er wollte auch noch sein Tagebuch fortführen, doch jetzt hatte unter ihm eine Übungsstunde begonnen. Eine junge Dame übte Koloraturen. Es war immer die gleiche Übung, wie ein verzerrter Hahnenschrei, wenn auch aus weiblicher Kehle. Er durchdrang Wände und Decken. In den kurzen Pausen dazwischen vernahm Ben Frau Juliankas korrigierende, manchmal auch begütigende Altstimme. Diese Kunst war schwer, sehr schwer.
Er ließ das Heft offen liegen und bereitete sich einen Abendimbiss. Als er mit ihm fertig war, war auch die Stunde zu Ende. Er sah der Schülerin aus seinem Fenster nach. Es war eine junge Bürgersfrau, in ihrer Erscheinung allem Divenhaften unendlich fern.
Einige Tage später stieg Ben an seiner Haltestelle etwas unsicher aus der Straßenbahn und ging leicht schwankend in das Seitentälchen hinunter. Er war mit einem neuen Kollegen nach der Arbeit in einem Bierkeller gewesen. Das Hochgefühl war noch da, es kam mit ihm in die Villa. Frau Julianka gab wieder Unterricht. Es mochte eine andere Schülerin sein, doch waren es dieselben Übungen. Später fand er, es klang immer gleich. Zur Begleitung am Flügel ein zerrissener Hahnenschrei aus weiblicher Kehle, sanft belehrende Worte der Lehrerin, neuer Ansatz zur Koloratur, so ging es eine Stunde dahin, dann eilte die Schülerin die langen Treppen den Garten hinunter. Manchmal empfand er es wie ein Martyrium, eines für alle Beteiligten.
An einem der folgenden Samstage half er Frau Julianka im Garten. Sie ließ ihn die im Winter heruntergebrochenen Äste und Zweige aufsammeln und zerkleinern. Dann stopfte er alles in zwei Säcke für die Abfuhr. Während er sich damit abmühte, kam ein weiterer Untermieter durch den Garten. Sie waren sich bisher noch nicht begegnet.
„Herr Möbius – und das ist der junge Ben.“ Herr Möbius war um die dreißig und sagte, er sei Volontär bei der Zeitung, er wolle einmal Wirtschaftsredakteur werden. Er war formvollendet in all seinen Bewegungen, ähnlich war es mit seinen Bemerkungen. Ben kam sich sehr unreif vor. Herr Möbius war heute auf der Redaktion beansprucht. Seine zwei monatlichen Arbeitsstunden im Garten gedenke er in der nächsten Woche abzuleisten. Er war beansprucht, er gedachte … Leutselig grüßte er und empfahl sich, um die langen Treppen zum Tor wohl … hinabzusteigen. Ein derart feiner junger Herr stieg nur hinab. Schon quietschte die eiserne Gartenpforte, wie sie das immer tat.
„Herr Ben“ – das war nun so ein Scherz von Frau Julianka, die auch Sinn für Ironie besaß – „Herr Ben, würden Sie auch noch so gut sein, das alte Laub hier und da zu beseitigen. Es ist vom Herbst übrig geblieben, und es sieht so unschön aus. Ja? Ach wie lieb, dass sie auch das noch tun wollen. Da an der Hausecke steht schon der Rechen.“ Dann sagte sie, sie wolle nachsehen gehen, warum Sammy noch immer nicht im Garten sei.
Ben hatte die Laubreste zum größten Teil bereits zu kleinen Haufen zusammengekehrt, als die Sängerin mit einem zarten jungen Mann von malaiischem Typ erschien.
„Sammy, hilf dem Ben beim Einsammeln des Laubs. Ihr kennt euch doch schon, nein?“
„Ich wohne da unten“, sagte Sammy, fast akzentfrei, und wies mit Tempeltänzerinnengebärde auf ein kleines Fenster im Souterrain. Es lag gerade eben über der Erdoberfläche. „Ich halte den Sack für dich auf, und du tust alles hinein. Ist es recht?“
Er gefiel Ben sofort. Ben wühlte mit beiden Händen in den Laubhaufen und brachte ihm Hände voll für den Laubsack. Sammy zog den Sack, der kaum an Gewicht zunahm, mit gespielter Mühsal über die Rasenflächen. Das Rheuma erlaubte Frau Julianka keine praktische Mitarbeit. Dafür umflatterte sie die beiden mit Bewegungen ihrer Arme, ihrer Hände, wie segnend.
Als sie hinter dem Haus, oben am Waldrand, beschäftigt waren und Frau Julianka gerade nicht in der Nähe war, wies Sammy auf das Gartenhäuschen: „Und da wohnt der Maler mit seiner Frau.“
„Wer? Da wohnt auch noch jemand?“
„Ja, die Frau vermietet, wo sie nur kann. Sie stopft alles voll.“ Er war alles andere als respektvoll. Er war zierlich, er war ganz anders als Bens neue Kollegen. Er war entzückend. Ben erfuhr, Sammy sei angehender Ingenieur.
„Und wo ist der Maler?“
„Auf dem Land. Mit seiner Frau verreist.“
Sammy fuhr sich bald immer wieder über die Stirn, als wäre da Schweiß. Frau Julianka gab sich für diesmal zufrieden. Der Garten habe bedeutende Fortschritte gemacht.
Ben dachte: Das hier ist ja fast eine Landkommune.
Der Kollege hatte ihn am Himmelfahrtstag versetzt, ihn nicht in der Villa besucht. Das Bier und die Snacks wollte Ben dann nicht für eine andere Gelegenheit aufheben. Er lud Sammy ein, der unten auf der Terrasse in einem Buch las. Sammy kam sofort zu ihm auf sein Zimmer. Er lachte Ben an und behandelte ihn wie den Bruder, zu dem man ganz offen sein kann. Erzählte von der Missionsschule und davon, wie man den frommen Christen mimt. Alles an ihm war graziös, selbst sein Zynismus. So offen zu sein - beneidenswert.
„Dann hab ich hier ein Zimmer im Jungmännerwohnheim gehabt. Du weißt Bescheid?“
„Nein.“ Ben war ahnungslos.
„Das war nicht so gut, weißt du. Da gibt es welche, die wollen sich an dich heranmachen. Und das geht bei mir nicht, mach ich nicht mit.“ Er lächelte jetzt nicht mehr, er machte ein Gesicht wie ein Schwertkämpfer vor dem entscheidenden Streich. Mit genau diesem Gesicht hat er sich verteidigt, das ist klar, dachte Ben. Verteidigt was? Das Grazile, das er aufsparen will. Aber bei mir hat er nichts zu befürchten. Fürs Bett ist er mir zu zierlich.
An einem weiteren Samstag war er wie die übrigen Untermieter zu Frau Juliankas sommerlichem Liederabend eingeladen. Da es regnete, musste er vom Garten ins Haus verlegt werden. Frau Julianka hatte bei der Einladung hinzugefügt: „Wenn meine anderen Gäste Sie darauf ansprechen, dann sagen Sie bitte nicht, dass Sie bei mir möbliert wohnen. Sie sind einfach ein Gast von mir, wie alle anderen auch.“ Sie konnte sich offenbar nicht vorstellen, wie sehr ihr diese kleine Eitelkeit in seinen Augen schaden musste. Oder kam es auf seine Meinung darüber nicht an?
Die Bandbreite ihres Repertoires war erstaunlich. Zunächst das Übliche: Lieder von Mendelssohn und Brahms, dann etwas von Bartók, wobei sie anscheinend mühelos ins Ungarische wechselte, um sich kurz darauf bei einem Gospel als ebenso sattelfest zu erweisen. Ihr Programm nahm die Kurve vom Kultivierten zum Ekstatischen. Es begann im Salon und endete in der Kirche, und sie benötigte dafür nur eine knappe Stunde, in der sie das Tempo allmählich immer mehr steigerte. Man fand es bravourös, zwei Dutzend Gäste überschütteten sie mit Applaus. Sie zeigte sich gerührt, wenn nicht tief ergriffen. Dann gab es Erfrischungen.
Ben ging zwischen den Gästen herum und wich Gesprächen mit Sammy, Herrn Möbius und auch dem Maler und seiner Frau nach Möglichkeit aus. Sie waren ja alle angeblich nur zufällig hier zusammengekommen. Er schnappte Konversationsbrocken auf: „Erstaunliche Heiterkeit der alten Dame … naive Religiosität … wahre Herzensbildung …“
Als Frau Julianka ihn später einlud, mit ihr und einigen wenigen Gästen ein Abendbrot einzunehmen, lehnte er ab. Er habe noch zu tun. Seine Eltern würden ja morgen kommen und den ganzen Tag mit ihm verbringen.
Tagebuchnotiz einige Monate später: "Sammy geht fort! Also noch vor mir … Von allen hier oben war er mir doch am liebsten …"
Ben sah von seinem Fenster aus, wie der kleine Asiate seine Siebensachen durch den Garten zu einem wartenden Auto trug und dann rasch wegfuhr. Er hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Er musste gedacht haben, Ben wüsste Bescheid. Es war ja die Rede davon gewesen, er würde bald nach Köln umziehen.
Höchste Zeit, selbst auch zu verschwinden.
Er kündigte sein Zimmer, um nach Berlin überzusiedeln. Frau Julianka begann ein Gespräch mit ihm über sein bisheriges Leben, seine Zukunft.
„Ihre Eltern … Ihre Eltern machen es Ihnen ja nicht gerade einfach?“
„O, nein, sie machen keine Probleme mehr.“
„Aber Sie haben sich nicht mit ihnen vorher beraten …“
„Das kann ich schon lange nicht mehr, eigentlich nie …“
„Fühlen Sie sich Ihren Eltern vielleicht überlegen, da Sie mehr Bildung haben? Ist das das Problem? Sind Sie, entschuldigen Sie, vielleicht ein bisschen hochmütig?“ Sie lächelte ihn an.
„Nein, nein, das ist es nicht. Nur, wie soll ich es sagen – es ist ein unmögliches Verhältnis. Sie hätten besser nie meine Eltern und ich hätte nie ihr Sohn sein dürfen. Diese Fremdheit, wissen Sie …“
„Ja, ich sehe es ja auch … Und wie steht es mit Gott? Beten Sie zu Gott, beraten Sie sich wenigstens mit Gott?“
„Ich bin kein Christ.“
„Ja, was denn sonst? Doch nicht etwa Atheist – in Ihrem Alter weiß man noch nicht, was das bedeutet.“
„Nein, auch kein Atheist.“ Er sagte, er sei Agnostiker.
Sie stutzte, schwieg einen Augenblick und sagte: „Oh, etwas ganz Besonderes. Und so einen habe ich ein halbes Jahr hier im Haus gehabt. Nun, denken Sie wenigstens ab und zu an Gott.“
Als er mit Packen fertig war, wurde es im Garten unruhig. Er ging ans Fenster und sah hinunter. Frau Juliankas Tochter lief schnell die vielen Stufen zur Pforte hinab. Er hörte seine Wirtin ihr hinterherrufen:
„Hast du schon gewählt? Nein, noch nicht? Du musst unbedingt noch wählen gehen, hörst du?!“
Die Tochter öffnete das Gartentor und wandte sich noch einmal um:
„Aber was soll ich denn wählen?“
„CDU, nur CDU! Hast du verstanden?“
Die Wahl an jenem Sonntag ging aus Frau Juliankas Sicht trotzdem verloren.
*
R.I.P.
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