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--- Über Robert Musil, Nachlaß zu Lebzeiten

ArnoAbendschoen - 22.03.2019 um 23:29 Uhr

Als der schmale Band kleiner Prosatexte 1936 erschien, steckte sein Verfasser schon tief in einer persönlichen und Schaffenskrise, verursacht durch anhaltende Selbstüberforderung beim Schreiben, materielle Existenznot, politische Isolation, gesundheitliche Probleme. „Nachlaß zu Lebzeiten“ hatte so die Funktion eines Zurückmeldens, drückte aus: Es gibt ihn noch, den Autor des sagenhaften, immer noch in Entstehung befindlichen Riesenromans. Musil hatte während seine Berliner Jahre den ersten Teil von „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1931) und vom zweiten Teil den ersten Band (1933) herausgebracht, war viel beachtet und gerühmt worden und lebte nun wieder in Wien, in einer Art multiplem Überlebenskampf. „Nachlass zu Lebzeiten“ war seine letzte Buchpublikation. Danach kamen nur noch das Schweizer Exil, das Scheitern am nicht mehr zu bewältigendem Hauptwerk und der Tod.

Der Sammelband umfasst dreißig Einzeltexte, gegliedert in drei Abteilungen und die abschließende mittellange Erzählung „Die Amsel“. Überwiegend sind es für Zeitungen geschriebene Texte aus den Jahren 1920 – 1929, ausnahmsweise zwei aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Welche äußeren Einflüsse hat Musil in ihnen verarbeitet? Unter anderem Tierbeobachtungen, Aufenthalte in Italien, Eindrücke von der Kriegsfront, kulturelle Zeitströmungen der Zwanziger Jahre. Auch hier erweist sich seine Prosa wieder als stilistisch fulminant und dabei tieferen Sinn mal intensiv beackernd, mal eher streifend. Seine Untersuchungen sind im Detail oft ausgesprochen dialektisch und verraten dabei so etwas wie Freude am Gedankensport.

Seine Exaktheit im Beobachten kleinster Vorgänge in der Außenwelt ist akribisch zu nennen. Dabei fällt vor allem in der ersten Gruppe („Bilder“) eine Faszination durch Peinigendes, Grausames auf. Der Todeskampf von Fliegen, die auf einem mit vergiftetem Leim bestrichenen Papier festsitzen, wird über Stunden beobachtet und in allen Stadien beschrieben. Wir lesen von einer Drei-Klassen-Gesellschaft von Affen in römischen Parks, wie dort die Oberen die Unteren sadistisch schurigeln. Geradezu zärtlich ist die Beschreibung von Ostseefischern, wie sie Würmer auf ihre Angeln stecken. Ein sehr kitzliges Pferd scheint zu lachen, ein Hase wird von einem Hund gehetzt und totgebissen. Sadismus bei Musil? Das wird gewöhnlich nur mit „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ assoziiert. Dieselbe Tendenz zeigt sich auch in zwei Texten, die der Autor nicht in die Sammlung hier aufgenommen hat. In „Der Vorstadtgasthof“ endet ein Stelldichein damit, dass der Mann der Frau die Zunge abbeißt. Ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Fragment (später als „Menschenfressergeschichte“ gedruckt) handelt unverblümt, schockierend von „Mastsklaven“.

Unbarmherzig sezierend, oft ätzend ironisch sind die Texte der zweiten Abteilung („Unfreundliche Betrachtungen“), die Musil selbst als Satiren bezeichnete. Russische „Totenkopfhusaren“, die nach dem Weltkrieg auf Berliner Kleinkunstbühnen schrill kostümiert singend den Heldentod beschwören, veranlassen ihn zu einer Theorie des Kitsches. Musil weist nach, wie überflüssig, ja anachronistisch angesichts der damals neuen funktionalen Architektur Türrahmen geworden sind. Oder er zeigt, inwiefern Denkmale generell kontraproduktiv sind, ihre Objekte tatsächlich öffentlich nur zum Verschwinden bringen. Blicke durch ein Fernrohr verfremden bei ihm die banale Alltagswelt auf beängstigende Weise. Dann die Verklärung des deutschen Waldes und ihre Funktion. Oder die Rolle von Ansichtskarten und berühmten Orten für den geistigen Haushalt des Durchschnittsmenschen. In einer frühen Abrechnung mit der Psychoanalyse legt er beim Ödipuskomplex sozusagen den Finger in den Mutterschoß und bringt Ersteren mit dem Schönheitsideal der 1870er Jahre mit seinen fülligen Damen in Verbindung.

Die dritte Abteilung („Geschichten, die keine sind“) versucht sich an Anti-Erzählungen. Ein junger Astheniker will Kraftprotz werden und findet heraus, dass das zu seiner Zeit eher im Autobus fahrend als sich mit Sport abmühend möglich ist: Triumph moderner Technik über das antike Ideal. Nicht recht geglückt, dafür aufschlussreich in der oben schon gestreiften Hinsicht ist „Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten“. In ihr geht es um Amazonen und bedrohte Männer. Sacher-Masoch wird erwähnt, und 1729 wird ein Marquis von einem betont weiblichen Raubtier (Tigerin, Pantherin, Löwin?) erst erotisch verwirrt, dann zerfleischt.

Und dann gibt es hier wieder den Musil, der wie im „Mann ohne Eigenschaften“ auf der Suche nach dem „anderen Zustand“ ist, der sich um „taghelle Mystik“ bemüht, vor allem in „Die Amsel“, mit der der ebenso schmale wie sehr gehaltvolle Band schließt. Gerade zu dieser nicht leicht zu entschlüsselnden Erzählung findet sich in Fachpublikationen in jüngerer Zeit eine Diskussion auf hohem Niveau, an der Musil vermutlich seine Freude gehabt hätte. („Zu intelligent für einen Dichter“, soll einmal ein Verdikt über ihn gelautet haben.) Für den Normalleser, der auf Musil (immer noch) neugierig ist und sich noch nicht oder nicht wieder an das Rieseneposfragment wagt, ist „Nachlaß zu Lebzeiten“, parallel zum Roman entstanden, ein empfehlenswerter (Wieder-)Einstieg.




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