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Kenon - 08.03.2019 um 00:43 Uhr

Wenn ich in Polen bin, versuche ich immer, die neueste Ausgabe des politisch-historischen Magazins “New Eastern Europe”, das auf Englisch und Polnisch erscheint, zu kaufen. Das ist nicht ganz so einfach, weil es nur von wenigen Geschäften geführt wird, meist in Flughäfen oder Bahnhöfen. Es ist für mich auch nicht einfach, Zeit zu finden, um es dann tatsächlich zu lesen. Ein 5 ½ Stunden-Flug von Ungarn nach Kasachstan ist dann natürlich einmal eine gute Gelegenheit, das Heft zu studieren. Links neben mir sitzt ein Russe, der immer wieder interessiert auf das Magazin rüberäugt und dabei einzelne Worte erhascht. Worte wie “denial syndrome”, “old Moldova”, “post-Crimean deadlock”.
Er ist mittleren Alters, hat ein akkurates Äußeres, ein wenig Strenge, russischen Biss, ein bißchen zu wenig Körpergröße - wie der geheimdienstvoll grinsende Führer der Russen. Er trägt westliche Outdoor-Kleidung, teils in Neonfarben, und eine Digital-Analog-Uhr, die sicher ihre 3 oder 4K Euro gekostet haben mag und mich rein-silbern ablinkt. Irgendwann übermannt ihn die Neugier und er fragt mich auf Englisch, ob ich mich für die früheren Sowjetrepubliken interessieren würde. Ich bejahe seine Frage. Er fragt, ob er das Magazin einmal haben könne. Natürlich, antworte ich und reiche es ihm. Ich betone: Das ist ein polnisches Magazin. Er studiert sofort aufmerksam das Inhaltsverzeichnis. Sehr aufmerksam. Zielsicher pickt er sich die kontroverseren Artikel heraus und liest sie. Ich überlege, wer dieser Mann ist. Heimlich hoffe ich, es mit einem Intellektuellen zu tun zu haben. Deutet nicht sein Notizbuch, das er kurz nach dem Setzen in die Rückseite des Vordersitzes gesteckt hat, darauf hin (er wird es den ganzen Flug über nicht anrühren)? Ein kritischer Geist, der das kriminelle Unwesen des Putinismus verteufelt und für die Menschenrechte kämpft? Oder ist es ein GRU-Agent (so einer von denen, deren Auftrag es war, die Skripals zu vergiften), der gezielt neben mir seinen Platz gefunden hat? Alles ist möglich. Irgendwann hat er die 2, 3 Artikel, die sein Interesse besonders erregten, ausgelesen. Wortlos reicht er mir das Heft zurück. Nach einem Augenblick frage ich ihn - weil er es selbst nicht kommentiert hat -, wie es ihm gefallen habe. Das Heft sei ein wenig anti-russisch gewesen, meint er mit einem seltsamen Lächeln. Ich lache seltsam zurück. Er ist enttäuscht. Ich bin es auch. Wir wechseln die restlichen Stunden des Fluges kein weiteres Wort.




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