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-- Rezensionen II
--- Dramatische Höhepunkte bei Saint-Simon

ArnoAbendschoen - 16.12.2018 um 17:57 Uhr

Welchen Nutzen hat es, sich mit Literatur der Barockzeit zu beschäftigen? Jene Zeit ist uns außerordentlich ferngerückt. Vertieft man sich in die damaligen Lebensumstände – etwa Wohnen, Arbeiten, Gesundheit, Machtstrukturen, Glaubensüberzeugungen -, dann fühlt man ein Erstaunen, das zum Schwindligwerden tendiert: nur dreihundert Jahre und doch eine vollkommen verwandelte Welt seitdem. Die Barockzeit war die letzte Epoche vor Erfindung der Dampfmaschine, vor Industrialisierung, Wissenschaftsexpansion und Bevölkerungsexplosion, vor dem Aufstieg des Bürgertums zur bestimmenden Kraft. Man mache sich nur einmal klar, dass um 1700 noch immer der Transport von Menschen wie Gütern im Wesentlichen von tierischer Muskelkraft oder vom Fließen des Wassers, vom Wehen der Winde abhängig war.

Jene zwei, drei Generationen nach dem Dreißigjährigen Krieg sind uns fast so fremd wie die vor fünfhundert oder tausend Jahren. Können wir ihre literarisch überlieferten Lebenszeugnisse ohne umfangreiche Hilfsmittel und Kommentare wirklich verstehen, uns in sie einfühlen? Eine Verfahrensweise der Annäherung besteht darin, tatsächliche oder vermeintliche Parallelen in den allgemeinen Strukturen, politisch wie kulturell, aufzuspüren. Ein Bespiel dafür ist das Nachwort von Fritz Nies zum Reclam-Auswahlband der Erinnerungen von Saint-Simon, 1983 erschienen. Er erklärt das zunehmende Interesse an Saint-Simon damals im deutschen Sprachraum „durch seine untergründige Verwandtschaft mit der Weltsicht gerade unserer Tage“. Dann zählt er die Elemente der Krisenhaftigkeit seiner eigenen Zeit auf und glaubt, sie ebenso bei Saint-Simon zu finden. Nun sind „Angst vor schwindenden Sicherheiten und frühem gewaltsamem Tod, Zerfall- und Endzeitstimmung, Dekadenzbewusstsein und Ablehnung der real existierenden Umwelt, Resignation, Vergangenheitssehnsucht“ nicht auf die frühen 1980er Jahre beschränkt. Sehr viel davon gehört zum Krisenstandardrepertoire nicht nur des letzten Vierteljahrtausends. Es passt auch zur Romantik um 1800, zum Fin de Siècle um 1900, zur Zeit zwischen den Weltkriegen, zum späten Mittelalter wie zur allerneuesten Zeit. So lässt sich schwerlich eine spezielle Brücke vom Heute über die Abgründe der Zwischenzeit zum Barockzeitalter schlagen.

Ein anderer Weg zur Nutzanwendung dieser Lektüre bietet sich an, individualisierend statt generalisierend: die Fremdheit zunächst anerkennen und angesichts total unterschiedlicher Verhältnisse nach Grundsituationen menschlichen Verhaltens in Krisen Ausschau halten, und zwar anhand historischer Einzelfälle. Der Memoirenschreiber Saint-Simon erleichtert uns das, da er sich mehr für Personen als für Ereignisse interessierte, seine biographischen Abrisse jedoch auf dramatische Höhepunkte hin konstruierte. Ein gutes Beispiel dafür ist der Tod der Herzogin von Bourgogne 1712. Sie war als Tochter des Herzogs von Savoyen mit dem ältesten Enkel des Sonnenkönigs verheiratet worden und starb schon mit siebenundzwanzig. Durch den Tod ihres Schwiegervaters 1711 waren sie und ihr Gatte – er sollte kurz nach ihr sterben, beide an Masern oder Scharlach – für eine kurze Zeitspanne die Thronfolger. Saint-Simon schildert zunächst den Verlauf ihrer Krankheit und den Tod, dann folgt ein durchweg positives Bild ihres Charakters, ihres Auftretens und ihrer Beliebtheit am Hof. Höhepunkt der Darstellung ist eine Episode aus dem letzten Jahr, bei der sie eine kleine Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung hatte und wiederholt in den triumphierenden Ruf ausbrach: „Oh, ich werde ihre Königin sein!“ Deutlich wird durch dieses Arrangement des Textes das Eitle allen menschlichen Planens, aller stolzen Selbstgewissheit.

Eben das lässt sich auch über den Sturz der Fürstin Orsini sagen. Diese hatte sich im Ränkespiel um die spanische Thronfolge eine mächtige Stellung zu verschaffen gewusst. Seit 1701 bestimmte sie an der Seite Philipps V., eines weiteren Enkels des Sonnenkönigs, die Politik Spaniens. Als sie zunehmend den Interessen Frankreichs zuwiderhandelte, wurde sie 1714 Opfer einer Intrige und bei der Ankunft der zweiten Gattin des Königs des Landes verwiesen. Saint-Simon beschreibt den äußerst dramatischen Ablauf ihrer Entmachtung und ihren Abtransport zur Grenze genau. Er sympathisierte mit ihr und versetzte sich schreibend in ihre üble Lage, wie sie, unvorbereitet von der Höhe der Macht in ein Nichts gestürzt, in einer Kutsche ohne das Notwendigste wochenlang das winterlich kalte spanische Binnenland durchqueren musste.

Ganz anders und zur Gänze dramatisch das Leben des Abbés von Watteville. Er war der Prototyp eines sehr vitalen und skrupellosen Mannes, der seinen Weg über Leichen geht und die Seiten wechselt, wenn es ihm nützt. Er entwich jung einem Kloster, mordete zweimal auf der Flucht, trat zum Islam über, stieg als Gefolgsmann des Sultans bis zum Pascha auf, verriet seinen zweiten Herrn, machte sich, amnestiert und heimgekehrt, für Frankreich bei der Eroberung der Freigrafschaft Burgund nützlich, wofür er mit zwei Abteien belohnt wurde, und tyrannisierte als lokaler Potentat bis zu seinem Tod die Umgebung. Hier gelang Saint-Simon mit all dem Zeitkolorit ein zugleich zeitloses Porträt, das des treulosen Abenteurers, der gegen Belohnung blutige Dienste leistet und dem keiner Schranken setzt.

Eine weitere Glanzleistung Saint-Simons ist die Darstellung des Todes von „Monseigneur“, also des Sohnes des Sonnenkönigs. Er erlag 1711 den Pocken. Während der Erkrankung gab es ein Auf und Ab, wechselten sich Hoffnung und Verzweiflung ab. In der Hofgesellschaft und in ihren Mitgliedern selbst kämpften divergierende Gefühle miteinander. Der damalige Thronfolger galt vielen als ungeeignet für die Nachfolge. Viele hofften so, eine unselige Regierung könnte bei tödlichem Verlauf der Krankheit vermieden werden. Wie sie sich das eingestehen oder nicht eingestehen, wie sie von anderen dafür kritisiert werden und sich selbst schuldig fühlen, das ist das eigentliche Drama in diesem Kapitel der Memoiren. Der Verfasser schonte seine eigene Person dabei nicht.

Saint-Simon schonte keinen. Seine Figurenzeichnung läuft zumeist nach diesem Muster ab: eine Gestalt offensiv in den Blick nehmen, ihre Vorzüge deutlich herausstreichen, dann das Kritikwürdige scharf analysieren und schließlich zu einem meist ambivalenten Urteil kommen. Das hat etwas von Einverleiben, Verdauen und Ausscheiden. Auch dabei gibt es regelmäßig einen dramatischen Aufbau. Selbst als es um seinen jahrzehntelangen Freund, den Herzog von Orléans und späteren Regenten, ging, blieb Saint-Simon dem Muster treu. Auch von ihm finden wir ein aus Hell und Dunkel sehr gemischtes Bild. Es gipfelt im Atheismus des Freundes, für den gläubigen Saint-Simon gewiss etwas Negatives. Der Herzog liest während der Messe Rabelais und brüstet sich hinterher damit. Sein Freund weist ihm nach, dass das vor allem Getue war: „Er musste eben den Gottlosen und den Lebemann herauskehren.“

Saint-Simon lesen, das bedeutet, den uns bekannten Figuren des Welttheaters in für uns höchst exotischen Kulissen wiederzubegegnen.

(Der Auswahlband „Erinnerungen – Der Hof Ludwigs XIV.“ wurde von Norbert Schweigert übersetzt.)




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