Für eine Antwort auf Deine Frage ist es noch zu früh, selbst in einer Kategorie wie dieser, in der das Vor-Urteil zu gern herrschen möchte. Ich habe auch erst drei kurze Artikel gelesen; die Einleitung war eine etwas gehässige Betrachtung der Exil-Russen. Erstaunlich unsensibel für jemanden wie Roth, der ja zumindest irgendwie selbst ein Exilant gewesen ist. Es ist erkennbar, dass Roth keine klare politische Position einnehmen möchte, mal ein bißchen nach hier, mal ein bißchen nach dort schwenkt. Dass Sophokles, Ovid und Tacitus als "Repräsentanten bourgeoiser Geistigkeit" aus der Schule verbannt sind, schmerzt ihn dann doch und lässt ihn zwar nicht gleich giftig aber subtil sarkastisch werden:
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... eine neue Art, zu schaffen und aufzunehmen, zu schreiben und zu lesen, zu denken und zu hören, zu lehren und zu erfahren, zu malen und zu betrachten, ist hier entstanden. Daneben bleibt alles andere, was es ist: gespenstisch. -
So, jetzt bin durch mit den 17 Artikeln, die 1926/27 (September bis Januar) in der Frankfurter Zeitung erschienen sind. Mir scheint es, als würde Roth mit der Zeit kritischer werden, aber er versucht irgendwie, sich doch etwas Hoffnung zu bewahren, dass sich das sowjetische Experiment noch zum Guten wendet.
Hier einige Glanzlichter:
Zitat:
Eine kitschige Büste von Lenin im Klassenzimmer ist genau so schädlich wie ein kitschiger Öldruck vom Kaiser.
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Man fürchtet den kritischen Individualismus wie eine ansteckende Krankheit, deshalb steckt man den jungen Menschen mitten in eine fiktive Gemeinschaft, läßt ihn Wurzel schlagen in einem sozialen Phantasiegebilde, erweckt in ihm den Glauben an nicht-existente Gewalten, an Siege, die nicht errungen, an Niederlagen, die nicht erlitten wurden.
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Sie wissen, was es bedeutet, Komsomol zu sein und daß es die Karriere in Rußland sehr erleichtert, wenn man brav am Sonntag marschiert, Manifeste lernt, Zeitungsartikel memoriert und schließlich einmal durch die enge Pforte der Partei schlüpft.
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In Sowjetrußland aber sieht man die Welt von dem Turm aus, den die gesammelten und aufgestapelten Schriften von Marx, Lenin und Bucharin bilden ...
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Die verantwortlichen Männer Rußlands leben im Rausch der Zahlen, und die großen, runden Nullen verdecken die wahren Gesichter der Realitäten.
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Vorläufig verwechselt der primitive Dorfmensch Zivilisation und Kommunismus. Vorläufig glaubt der russische Bauer, Elektrizität und Demokratie, Radio und Hygiene, Alphabet und Traktor, die ordentliche Gerichtsbarkeit, Zeitung und Kino wären Schöpfungen der Revolution.
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Niemand ist, wie man weiß, stolzer, glücklicher und lächerlicher als ein Ideologe, der Gelegenheit findet, »Tatsachen« aufzuzählen. Jetzt, so bildet er sich ein, hat er die »Realität« am Kragen gepackt. (Er ist niemals weiter von der Realität entfernt gewesen.
Hat Walter Benjamin diese Texte wirklich gelesen?
Zum Thema beim deutschlandfunk:
Beklemmende Reportagen aus Russland und der Ukraine