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-- Prosa
--- Rückwärts - Vorwärts

Lily Roth - 08.04.2017 um 16:19 Uhr

Rückwärts – Vorwärts

Eigentlich wollte ich den neuerworbenen Gedichte- und Kurzgeschichtenband lesen. Doch kaum lese ich die erste Zeile, schlägt zuerst der Nachbarshund an, meiner danach, dann heult der Collie im Erdgeschoß und schließlich läutet es an der Tür, M. kommt zu Besuch und möchte „nur ein bischen plaudern“.

Das wär´s dann also.

Ich öffne eine Flasche spanischen Rotwein, wir plaudern . . .

Eine gute Stunde später, M. ist gegangen, widme ich mich wieder meinem Buch. Die Flasche ist so gut wie leer, mein Kopf voll. Das wird heute wohl nichts mehr, denke ich, ein paar Zeilen werde ich noch lesen und dann schlafen gehen.


„Rückwärts. Ein Mann tritt aus dem Haus und öffnet den Regenschirm. Ein Mann öffnet die Haustüre, tritt ins Freie und öffnet seinen Regenschirm, sogleich fallen Regentropfen aufs Dach.“

„Rückwärts“ klingt gut, finde ich. Wieder Hundegebell, die Plauderei mit M. klingt nach in meinem Kopf, ich lese weiter. Worte reihen sich an Worte, ich bin nicht fähig den Text zu Ende zu lesen, jedes Wort ein Strudel, der mich in die Tiefe zieht ohne dass ich mich dagegen wehren könnte. Unbarmherzig zieht es mich rückwärts, zu dem Mann mit dem Regenschirm, zu dem Mann, bei dem ich den Regenschirm, der meiner Mutter gehörte, vergessen hatte an jenem Nachmittag in Wien – meiner ersten Liebe.

Eigentlich sollte jetzt eine Liebesgeschichte kommen, voll Romantik, Kitsch und Leidenschaft . . . sie kam aber nicht, und schon wieder bellt der Nachbarshund. Eh g´scheiter, denke ich, so weit rückwärts wollte ich eigentlich gar nicht gehen, besser ich lese weiter.

Aber ich habe das Buch zugeschlagen, finde die Seite nicht mehr, die Geschichte mit dem Regenschirm ist verloren. Ich hätte es wissen müssen, schon vorher. Schlage neue Seiten auf, doch das „Rückwärts“ will kein Ende nehmen, eine Sehnsucht nach der „Spiegelgeschichte“ überfällt mich, und ich lande in der Deutsch-Stunde im Gymnasium.

Langsam wird es dunkel. Auch Sommerabende gehen irgendwann zu Ende. Ich mag die Dunkelheit, sie zieht mich in die Tiefe wie Worte. Der Bleistift wandert weiter wie ein Vagabund ungeachtet der Helligkeit. Ein alter Zigeuner, der die Wege kennt, doch keine Heimat.

Vorwärts. Eine Frau tritt ins Haus und legt sich ins Bett. Eine Frau öffnet die Balkontüre, tritt ins Haus und legt sich ins Bett, sogleich fällt sie in traumreichen Schlaf . . . .





Zitat: Büttiker, Patricia, „Rückwärts“, TOP 22, Teil II, Seite 59, Ed. Aramo 2005




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