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-- Prosa
--- Am Balkon
Lily Roth - 27.03.2017 um 18:21 Uhr
Am Balkon
(Beschreibung)
Ich sitze am Balkon. Für einen Moment schließe ich die Augen. „Was sehe ich?“ frage ich mich, und öffne sie wieder. Zuerst natürlich meinen Schreibblock, den Bleistift, meine Hände, die den Stift über das Papier bewegen, meine Arme und hinter dem Block das Notebook. Dahinter ragen meine nackten Zehen auf, weil ich die Beine auf dem zweiten Balkonstuhl hochlagere. Rechts von mir gibt die offene Balkontüre einen Blick auf mein Schlafzimmer frei. Von meiner Position aus sehe ich die Fernsehwand und daneben die großen Hundematrazen, die angeblich das ganze Zimmer „verschandeln“, jedoch von meinen drei Fellkindern heiß geliebt werden. Mein Bett liegt hinter der Türe, vis à vis von der Fernsehwand. Vor der Balkontüre steht der Ständer mit der Wäsche. Sie ist längst trocken, ich war nur bisher zu bequem sie abzunehmen.
Hinter dem Stuhl, der mir als Fußablage dient, ranken sich meine Müller – Thurgau – Trauben am Balkongitter entlang. Ich kann sie nicht ansehen ohne mich zu freuen. Nie hätte ich gedacht, dass sie so weit wachsen würden, dass sie bis zu mir in den ersten Stock heraufklettern, einen natürlichen Sichtschutz bilden und mir ihre Früchte schlaraffenlandmäßig fast „bis ins Maul“ wachsen. Vor gut zwanzig Jahren habe ich sie im Garten vor die Mauer gepflanzt und sogar eigenhändig ein Holzgerüst zum Ranken montiert. Meine Trauben stammen also noch aus der Zeit in der ich versucht habe den Garten zu verschönern. Allerdings sind sie die einzigen, die diese Versuche überlebt haben – Rosen, Magnolien, diverse Kräuter und Gemüsepflanzen sind gnadenlos ausgerottet und sämtliche Beete zerstört worden. Es hat einige Jahre gedauert bis ich begriffen und aufgegeben habe.
Einige Meter hinter bzw. unter dem Balkongeländer weiß ich den Gartenzaun – sehen kann ich ihn von hier aus nicht – und wieder einige Meter dahinter steht das Haus von Herrn I., von dem ich Teile der Hausmauer, des Fensters und des Daches mit den drei Schornsteinen sehe. Er ist ein angenehmer und ruhiger Nachbar. Der rüstige Frühpensionist lebt seit seiner lange zurückliegenden Scheidung alleine. Er pflegt seinen Garten liebevoll und er enthält sich jeden Kommentars was den Zustand unseres Grundstückes betrifft. Ich finde das ausgesprochen nett.
Schräg links von mir, vor dem Zaun, ragt der Tannenbaum in die Höhe – ein Riese ist er geworden unser ehemaliger „lebender Christbaum“, den wir vor vielen Jahren nach dem weihnachtlichen Familienkrieg im Garten ausgepflanzt haben. Er beherbergt Scharen von Vögeln und stets gefüllte katzensicher angebrachte Futterhäuschen.
Wieder weiter nach links wandert mein Blick in unseren Garten – soll ich Ihnen (und mir) eine Beschreibung wirklich antun ? Der Garten, das ehemalige, nunmehr fast verwaiste Schlachtfeld meiner Familie, derer „von und zu Schilda“ wie ich sie boshaft zu nennen versucht bin. Einer hat ein Loch gegraben, der andere hat´s wieder zugeschüttet und ein paar Meter weiter ein Loch gegraben. Einer hat eine Pflanze gesetzt, der Nächste hat sie ausgerissen. Jahrzehntelange verbissene Kämpfe, ausgetragen mit Spaten, Spitzhacke und Scheibtruhe, mit Sägen und Zangen haben Spuren hinterlassen. Übrig geblieben ist ein mit Unkraut und Gras bewachsenes Hügelland. Verschiedene Büsche wuchern ineinander verwachsen den Zaun entlang, ja durch den Zaun hindurch, bis über den halben Gehsteig. Fast zur Gänze von Gebüsch überdeckt steht ein ziemlich verfallener Geräteschuppen aus Holz, der die „alte Waffenkammer“ beherbergt. Weiter links: das völlig verdreckte Schwimmbecken, das ich Gott sei Dank von meinem Platz aus weder sehen noch riechen muß, und in der Gartenmitte als „Krönung“: Papas Nußbaum. Wenn ich den Kopf nach links drehe kann ich ihn betrachten. Viel zu groß für unser Grundstück ist er schnell aufgeschossen und völlig schief gewachsen, sodass man meinen könnte, er fällt jeden Moment um. Sämtlichen anderen Obstbäumen, kleinen Spalierarten, hat er Licht und Nährstoffe geraubt bis sie eingegangen sind. Etlichen Mordanschlägen meiner Mutter hat er getrotzt, und die Nussernte fällt jedes Jahr üppig aus.
Links neben dem Schuppen verdeckt freundlicherweise ein Hollunderstrauch den Komposthaufen. Davor türmen sich abgesägte Zweige und ein Haufen abgemähtes Gras – genau vor der Schuppentür.
Was für eine Idylle. Papas nunmehr alleiniges „Revier“.
Mein „Reich“ ist der Balkon: meine „Sommerresidenz“ sozusagen. Sobald das Wetter es zuläßt, verbringe ich hier jede freie Minute. Den wüsten Garten ignorierend genieße ich es draußen zu sitzen, Kaffee zu trinken, lesend, schreibend. Vor und neben mir stapeln sich Bücher, Zeitschriften, Notizbücher, Zettel, Bleistifte, Radiergummis, Spitzer, Notebook und Kaffeetassen. Das einzige Ungemütliche ist der Wind, der manchmal so heftig weht, dass er schon so manche Buchseite zerrissen hat. Auch den Lärm vom nahen Bahnhof und allgemeine Straßengeräusche mag ich nicht besonders. Wenn der Lärmpegel allzu sehr anschwillt greife ich einfach zu einer bewährten Strategie seit Jugendtagen – Ohropax.
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