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Lily Roth - 27.03.2017 um 18:01 Uhr

Mona

Ich überquere die Straße, die unsere Häuser trennt. Seit einer Woche freue ich mich auf unser Treffen. Meine Arbeitsunterlagen, sämtliche Bücher, Mappen, Notizen inklusive Notebook sind sicher in meinem Rucksack verstaut. Schon merkwürdig, denke ich und lächle innerlich, dass wir jahrzehntelang Nachbarinnen sind und einander erst kürzlich in Wien bei einem Seminar kennengelernt haben.
Punkt elf Uhr. Eine heiße Julisonne brennt vom Himmel. Ich läute und freue mich auf die Kühle im Haus. Monas Terrier-Mix schlägt an. Während ich warte überlege ich, wie wir unser gemeinsam geplantes Seminar gliedern könnten. Der Hund hat aufgehört zu bellen, ich läute noch einmal, und er gibt wieder Laut. Der Titel unserer Veranstaltung wird sein: „Zwischen Elternliebe und Elternhass“; es wird um Konflikte zwischen Erwachsenen und ihre Eltern gehen. Nachdem ich ein drittes Mal geläutet habe nehme ich mein Handy aus der Tasche, wähle Monas Nummer und lande prompt in ihrer Mobilbox. Ich ärgere mich kurz, bin aber der Meinung, dass ein wenig Verspätung nicht so tragisch ist und gehe wieder nach Hause.
Elf Uhr dreißig. Nachdem ich daheim noch einige Telefonate erledigt habe, stehe ich wieder vor Monas Gartentor und läute. Filou schlägt an. Sonst nichts. Offensichtlich ist sie immer noch nicht zu Hause. Mein zweiter Versuch, sie telefonisch zu erreichen endet wie der erste. Mein Ärger wächst langsam. Bisher habe ich meine Kollegin und eigentlich fast schon Freundin als pünktlich und zuverlässig erlebt.
Zwölf Uhr. Die Szene wiederholt sich und meine Wut steigert sich.
Eine weitere Stunde später hat mein Zorn seinen Zenit überschritten und verwandelt sich in Sorge. Es muss etwas passiert sein.
Um vierzehn Uhr halte ich das Warten nicht mehr aus und rufe die Polizei an. Meine Fantasie malt mir mittlerweile ein Horrorszenario. Es muss etwas Schreckliches passiert sein.
Vierzehn Uhr dreizehn. Zwei Mann und eine Frau stark ist die Besatzung des Polizeiwagens, der vor Monas Haus parkt. Ich wiederhole was ich bereits ausführlich am Telefon geschildert habe. Die Beamten reagieren freundlich und verständnisvoll. Der Hund bellt wie verrückt und läuft vor dem Zaun auf und ab. Der jüngere der beiden Polizisten meint, er könne über den Zaun klettern und versuchen ins Haus zu gelangen – wenn da nicht der Terrier-Mix wäre. . . Also klettere ich zuerst über den Zaun, bewaffnet mit extra großen Stücken Hundekuchen, die ich vorsorglicher weise eingesteckt habe. Der Vierbeiner erweist sich als bestechlich. Er schnappt sich sein Leckerli, das eindeutig für größere Rassen konzipiert ist, verschwindet stolz mit seiner Beute in den hinteren Teil des Gartens und lässt mich ungehindert in sein Revier eindringen. Ich folge dem Hund und der Beamte mir – in gebührlichem Respektsabstand und ständig nach Filou Ausschau haltend. An der Hinterseite des Hauses steht die Terrassentür sperrangelweit offen. Ist das gut oder schlecht, frage ich mich in Gedanken. Wenigstens brauchen wir keine Türe aufzubrechen. Wir betreten das Wohnzimmer. Es wirkt alles normal, es ist aufgeräumt und sauber. Während der Beamte sich im Erdgeschoß umsieht gehe ich die Treppe hinauf. Die Türen zu allen Zimmern stehen offen. Ich bleibe im Flur stehen und rufe laut nach Monas. Keine Antwort, jedoch fällt mir jetzt auf, dass aus dem Schlafzimmer ein merkwürdiges Geräusch kommt. Vorsichtig gehe ich weiter – und identifiziere die Töne als lautes unregelmäßiges Schnarchen. Das gibt’s doch nicht, denke ich, so tief kann man nicht schlafen. Ich traue meinen Augen kaum als ich im Schlafzimmer stehe und Mona im Bett liegen sehe. Sie schläft tatsächlich, schnarcht laut und wälzt sich unruhig hin und her. Schon will ich erleichtert aufatmen als mir klar wird, dass hier etwas doch nicht stimmt. Ein schwerer Geruch von saurem Schweiß und Alkohol liegt im Raum. Scheiße, denke ich, und ein Gemisch aus Erleichterung, Wut und Sorge beschert mir einen weiteren Adrinalinstoß. Während ich mehrmals laut ihren Namen wiederhole greife ich nach Monas Hand. Sie ist kalt und schweißig. Keine Reaktion. Ich setzt mich auf die Bettkante, umfasse ihre Oberarme, schüttle sie vorsichtig und ernte ein schwaches Stöhnen. Ich hoffe inständig, dass der Polizeibeamte nicht heraufkommt und meine Kollegin in dieser Verfassung sieht. Ob sie außer Alkohol noch etwas eingenommen hat? Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Minuten zu sich kommt, rufe ich die Rettung.
Wieder ein Stöhnen, diesmal etwas lauter. Nach wiederholtem Schütteln bewegen sich endlich die Lider. Ein erster Versuch, die Augen zu öffnen. Ein gutes Zeichen.
„Mona, wach auf“ wiederhole ich mit lauter Stimme, „ich bin´s! Schau mich an!“
Es folgen undefinierbare Laute, aber immerhin, sie ist dabei aufzuwachen.
„Mona“, rufe ich“erkennst du mich? Wach auf!“
Es folgt ein Lallen, das ich mit einiger Fantasie als „was?“ und „wer?“ interpretiere. Sie blinzelt. Der Versuch, den Kopf anzuheben misslingt und er fällt wieder zurück auf das zerknautschte feuchte Kissen.
„Gott sei Dank!, sagt meine innere Stimme, zumindest hat sie keine Schlaftabletten eingenommen. Oder vielleicht doch? Aber dann würde sie doch nicht aufwachen. Sollte ich doch die Rettung verständigen? Hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen? Was könnte so Schlimmes passiert sein? Woran erkennt man, dass. . . .
Ein lautes Grunzen, das wie „Scheiße“ klingt, reißt mich aus meinen Gedanken. Sie hat die Augen geöffnet und sieht mich mit verschleiertem Blich an. Sie sieht mich an !
„Scheiße!“
„Mona, was ist passiert?“
„Scheiße“, wiederholt sie, „alles Scheiße!“
Die Lider sinken wieder nach unten, sie dreht den Kopf zur Seite, weg von mir.
„Mona, wach auf! Weißt du wer ich bin?“ frage ich und schüttle sie erneut.
„Alles Scheiße!“
Sie öffnet aber wieder die Augen, der Blick wird etwas klarer. Ich bin sicher, dass sie mich erkennt.
„Bist du betrunken?“ frage ich sinnloserweise.
„Ja“, lallt sie zurück.
„Hast du Tabletten eingenommen?“
„Nein. . . lass mich in Ruhe. . . !“ höre ich zwischen undefinierbarem Gestöhne und Gegrunze heraus.
„Ist dir schlecht?“
„Alles Scheiße“, schluchzt sie und ein Zittern lässt ihren ganzen Körper vibrieren, „Lass mich in Ruhe. . . „
Schritte. Jemand kommt die Treppe hoch. Mein Gott, der Polizist! Ich springe auf, laufe aus dem Schlafzimmer, schließe die Türe hinter mir und stoppe ihn gerade noch rechtzeitig bevor er die „Duftwolke“ erreicht. Ich schäme mich für Mona, möchte sie aber auch vor Gerede schützen – immerhin arbeiten wir beide in einem psychologischen Beruf – und überzeuge den Beamten davon, dass meine Freundin nur sehr tief geschlafen und deshalb das Läuten überhört hat. Ich entschuldige mich mehrmals für den falschen Alarm, schaffe es, ihn vom Weitergehen abzuhalten und dränge ihn freundlich die Stiegen hinunter. Da ist auch wieder Filou, der seinen Riesenhundekuchen verspeist hat und für willkommene Ablenkung sorgt. Der Beamte möchte eindeutig Haus und Grundstück verlassen. Nachdem der Vierbeiner einen weiteren Megakeks bekommen hat erlaubt er uns netterweise sein Revier auf gleichem Weg zu verlassen, wie wir es betreten haben. Auch die übrige Mann- und Frauschaft des „Einsatzkommandos“ reagiert äußerst verständnisvoll und höflich auf meinen falschen Alarm. Ich verabschiede mich schnell und freundlich um zurück zu Mona zu gehen. Ich will sie in diesem Zustand nicht alleine lassen.
Als Filou sieht, dass ich ohne Fremdling und mit einem weiteren Leckerbissen komme, verzichtet er endgültig auf sein nervtötendes Gekläffe, schnappt sich seine Beute und zieht sich dezent zurück.
Aus dem ersten Stock dringt ein dumpfes Geräusch und ich eile hinauf. Monas Versuch auf die Toilette zu gehen ist fehlgeschlagen.
„Um Gottes Willen! Bist du verletzt?“, frage ich die auf dem Boden Liegende.
„Njaein . . .“ - ?!?
Ich helfe ihr auf und begleite sie aufs Klo.
Nach mühsamer Befriedigung aller dringender Bedürfnisse bugsiere ich sie wieder zurück ins Schlafzimmer und ins Bett.
„Lass mich in Ruhe“ und „Alles Scheiße“ sind die einzigen verbalen Äußerungen, die ich in den nächsten drei Stunden zu hören bekomme. Dazwischen Schluchzen, Stöhnen, Räuspern, Rülpsen und Husten. Dann endlich ist sie fähig aufzustehen und mit meiner Unterstützung hinunter ins Wohnzimmer zu wanken. Dort lässt sie sich sofort auf die Couch fallen und ich flöße ihr Wasser und Kaffee ein.
Zwei weitere lange Stunden später kommt endlich ihre Tochter nach Hause. Ich führe ein kurzes ehrliches Gespräch mit der jungen Frau und verabschiede mich mit Magenschmerzen und Kopfweh.

Was genau „Alles Scheiße“ bedeutet, habe ich nie herausgefunden. Mona ist in zweiter Ehe verheiratet. Ihr Mann ist freundlich, gutaussehend, verständnisvoll, wohlhabend und intelligent. Laut ihrer eigenen Aussage lieben die beiden einander.
Sie trinkt seit dreißig Jahren.
Ihre drei Töchter sind nett, gesund und wohlerzogen und studieren an der Universität.
Innerhalb von drei Jahrzehnten hat die psychologische Beraterin mindestens zehn Psychiater und diverse Psychotherapeuten „verbraucht“.
Ihre Kinder sind früh ausgezogen und wechseln nur die allernötigsten Worte mit ihr.
Da ich aus dem Projekt ausgestiegen bin hält sie nun alleine Seminare und Vorträge über Eltern – Kind – Konflikte, gelingende Kommunikation, . . .

Ab und zu ruft sie mich an und lallt in den Hörer.




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