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-- Aesthetik
--- Begehren und Versagung - Analyse eines Films
ArnoAbendschoen - 04.01.2017 um 21:42 Uhr
Mehrdeutigkeit ist ein Hauptmerkmal von Xavier Dolans Film „Tom à la ferme“, deutsch „Sag nicht, wer du bist“. Bei einem Werk, das auch minimalistisch ist, regt das ebenso das Bedürfnis nach Auslegung an, wie es sie zugleich erschwert. Drei Hauptmotive oder –motivstränge dominieren die umfangreiche kritische Auseinandersetzung. Besonders oft fällt das Stichwort „Stockholm-Syndrom“. Toms Entwicklung während seines verlängerten Aufenthalts auf der Farm, durch Druck und gewaltsame Mittel erreicht, wird gern als zeitweilige Anpassung an eine fremdbestimmte Lage gesehen. Diesen Ansatz bevorzugen nicht nur professionelle Kritiker, er wurde schon bei der Vermarktung des Films betont. So kann man ein breites Publikum ansprechen – jeder kann einmal eine Geisel werden. Gegen diese Perspektive sprechen allerdings Anfang und Ende der Fluchtversuche. Nach Guillaumes Leichenfeier ist Tom entschlossen, nicht ins Bauernhaus, sondern nach Montreal zurückzukehren, und nimmt den Verlust seines Reisegepäcks in Kauf. Dann wendet er nach innerem Kampf und fährt wieder zur Farm, ohne Zwang, weil er selbst es will. Am Ende des Films befreit er sich selbst, ohne Hilfe von außen, allein aufgrund innerer Distanzierung. Das entspricht nicht der Entwicklung eines klassischen Stockholm-Syndroms.
Zu Recht viel beachtet wird dagegen das komplizierte Mutter-Sohn-Verhältnis. Agathe ist die Herrin im Haus, sie sagt dem Sohn, was zu tun ist, korrigiert sein Verhalten, brüllt ihn gelegentlich an und ohrfeigt einmal sogar den schon Dreißigjährigen. Francis fühlt sich der Mutter verpflichtet und strebt zugleich von ihr weg. Er will ihr Kummer ersparen, selbst um den Preis der Lüge. All das empfindet er auch als Last und Unfreiheit und wünscht der Mutter und sich selbst, sie möge bald sterben. Sein Auftreten wirkt bescheiden bis unterwürfig, wenn Agathe zugegen, und selbstbewusst oder dominierend, wenn er mit Tom allein ist. Die seelische Verwandtschaft zwischen Mutter und Sohn ist offensichtlich. Dabei sind Mutter- wie Kindesliebe von untergründiger Ambivalenz geprägt.
Gefühlsambivalenz tritt zwischen Francis und Tom offen zutage und nimmt hier breiten Raum ein. Sie füllt den Großteil der Handlung aus und bestimmt deren Fortgang mit ihrem Dualismus von Gewalt und Zärtlichkeit. Schon die Begrüßung des Gastes stimmt ein auf den Doppelcharakter ihrer Kommunikation. Francis reißt den Gast aus Montreal brutal aus dem Schlaf und hält ihm den Mund zu, aber er spricht selbst leise, rücksichtsvoll. Am anderen Morgen bringt er als Erstes ein Lob auf den von Tom vorbereiteten Redetext an. Er steht hinter dem am Tisch Sitzenden, wie ein Wächter, weniger drohend als beschützend. Doch kurz darauf schockiert er Tom in der Dusche à la Hitchcocks „Psycho“ und verbietet ihm, Parfüm zu benutzen. Das Sinnliche ist schon Bedrohung. Nach der missglückten Trauerfeier zieht Francis die Schraube weiter an, schlägt Tom erstmals und verrät sadistische Befriedigung. Er sagt: Ich habe gewusst, dass du kommen wirst ... Von wirklich wissen kann keine Rede sein, Tom war ihm persönlich noch unbekannt. Er hat nach der Nachricht vom Tod des Bruders das Erscheinen von dessen Partner nur vermutet, also befürchtet, vielleicht auch erhofft oder beides zugleich.
Mutter und Sohn sind sich einig: Tom muss bleiben. Er wird gar nicht gefragt und noch am Tag der Exequien für die Stallarbeit eingeteilt. Dabei bewährt er sich ebenso wie darin, Agathe zu belügen, indem er eigene Erinnerungen an den Toten auf dessen angebliche Freundin Sarah überträgt. Francis ist hochzufrieden, ihr Einvernehmen kurze Zeit ungetrübt. Bald übt Tom unbedacht Kritik an ihm, spricht das schiefe Verhältnis zur Mutter, die schmerzliche Erinnerung an den Bruder an und will abreisen. Da verliert Francis die Kontrolle über sich und jagt Tom in ein Maisfeld mit messerscharfen Blättern. Er verprügelt den viel Schwächeren, die Finger in dessen Haare gekrallt. Aber dann lösen sich die Finger, die Hände umfassen den Kopf des anderen, scheinen ihn streicheln zu wollen. Tom erfährt, er müsse nun erst recht bleiben. Zwischendurch spucken sie sich an. Nach diesem Exzess ist ein Arztbesuch fällig und der Abend wird zur idyllischen Bügelstunde. Francis, jetzt sehr sanft, sagt: Ich weiß, dass ich dir gefalle. Geh nicht fort …
Ein Kalb wird geboren, von den beiden Männern aus dem Kuhleib herausgeholt. Wir sehen nur, wie sie ihre blutverschmierten Hände und Arme danach säubern. Francis verbindet zartfühlend eine Wunde neu, die er Tom am Vortag zugefügt hat. Dann kramt er Kokain hervor und, scheinbar unmotiviert, noch eine Bluse, die er mal einer Frau schenken wollte. Tom erfährt auch auf Nachfrage nicht, warum das Geschenk nicht übergeben wurde. Setzt Francis jetzt Tom mit ihr gleich? Er zwingt den anderen, eine Line zu sniefen, dann führt er ihn in die Scheune und fordert ihn zum Tango auf. Um den Kassettenrekorder zu übertönen, spricht Francis sehr laut, und die heimlich mithörende Mutter muss vernehmen, wie verhasst dem Sohn das Leben auf dem Hof ist. Er wartet auf ihren Tod oder Umzug ins Pflegeheim. Tom macht sich sehr gut beim weiblichen Part des Tanzes, der abrupt abgebrochen wird, als Agathe in den Blick gerät. Hinterher wirft Francis, mit dem Rücken zu Tom, diesem vor: „Es ist deine Schuld.“ Nachts kühlt sich Tom die neue Gesichtsschwellung mit Eis.
Noch von Schlägen gezeichnet will Tom anderntags mit seinem Wagen fort. Francis hat vorsorglich die Reifen abmontiert und lädt seinen Gefangenen stattdessen zu einer Spritztour mit dem Lkw ein. Unterwegs wird Bier besorgt und dann stehen die zwei in einer verlassenen Halle. Francis wirft Tom Unfreundlichkeiten an den Kopf, er sei verschwendetes Sperma. Tom mokiert sich darüber, dass Francis nun selbst parfümiert ist, und fragt: Für Hochzeiten? Da beginnt Francis Tom zu würgen. Der geht, statt Angst zu zeigen, bereitwillig darauf ein, fordert: stärker. Francis erkennt an, dass Tom gerade die Oberhand hat: Sag stopp, wenn’s Zeit ist. Du bist jetzt der Boss … Tom empfindet Francis’ Ähnlichkeit mit Guillaume als schmerzlich aufwühlend. Die beiden kommen sich sehr nahe und küssen sich – dann doch nicht, denn Francis läuft weg, wartet im Auto. Nachts sieht man die beiden in ihren Einzelbetten im Schlafzimmer der Söhne liegen, drei Meter voneinander entfernt an gegenüberliegenden Wänden. Tom starrt auf den Rücken des anderen.
Sarahs Kurzbesuch auf der Farm - Tom hat sie telefonisch herbeigebeten - ist sowohl retardierendes wie beschleunigendes Moment. Francis ist wegen ihrer Wirkung auf Agathe zu Recht besorgt. Der Besuch wird, als die Mutter das Lügengewebe erkennt, abgebrochen. Die Männer bringen die junge Frau im Auto zum Bus. Francis und Sarah alkoholisieren sich während der Wartezeit. Francis fängt an, Toms Rolle mit Sarah neu zu besetzen, und schenkt ihr die Seidensamtbluse. Er macht Tom deutlich, dass Schwule jetzt hier nichts mehr zu suchen haben. Die Frau scheint den Bauern tatsächlich zu beeindrucken. Zugleich benutzt Francis sie, um Abstand zu Tom zu gewinnen. Etwas später wird Sarah ihren Bus nehmen, als sei nichts gewesen. Geschehen ist aber doch etwas: Tom hat währenddessen in einer Bar erfahren, weshalb Francis im Dorf geächtet und zu welchem Ausmaß an Gewalt er fähig ist.
Spielt die folgende Szene am nächsten Tag oder Tage danach? Das bleibt unbestimmt. (Die gesamte Handlung erstreckt sich über mindestens sieben Tage, evtl. über mehrere Wochen.) Tom wacht allein auf, es ist heller Tag. Ihr gemeinsames Schlafzimmer hat sich verändert, die Möbel sind umgestellt. Die beiden Einzelbetten sind in die Mitte des Raumes gerückt worden, dicht beieinander wie ein Doppelbett. Die rechte – Toms – Hälfte ist unbenutzt. Tom liegt allein in Francis’ Bett, seine Sachen gleich daneben. Wir erfahren nicht, wie lange die neuen Verhältnisse schon bestehen. Agathe und Francis sind nicht zu Hause. Tom nutzt die Gelegenheit zur Flucht, wird von Francis verfolgt und kann entkommen.
Das also ist das Grundgerüst einer Handlung, die, anders als ein Geschehen mit Stockholm-Syndrom, einlädt zu Fan-Fiction. Primär geht es im Film um die nicht gelingende Beziehung zweier Männer, die, so verschieden sie auch sind, sich gegenseitig stark anziehen und einander dabei immer wieder erheblich verletzen. Ihre Geschichte spiegelt zugleich die unbewältigten Konflikte zwischen Mutter und Sohn wider. Sind die zwei Männer wirklich miteinander fertig? Tom ist mit Francis’ Lkw nach Montreal gefahren … Seine Ankunft in der Lichterstadt am Sankt-Lorenz-Strom erinnert formal stark an jene von Lai in Wong Kar-Wais „Happy Together“ in Hongkong. Lai hat sich endgültig von Ho getrennt und kann auf ein Wiedersehen mit Chang aus Taiwan hoffen. Tom hat nur die Erinnerung an einen Toten und dessen gewalttätigen Bruder.
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