- versalia.de
-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Schreiben bis zum Selbstmord

ArnoAbendschoen - 10.10.2016 um 00:14 Uhr

Das sind Fragen, die einen beschäftigen können: Gibt es Beziehungen zwischen literarischer Produktion und Neigung zum Selbstmord? Kündigt sich der spätere Freitod in den Werken an? Welchen Einfluss hat die Neigung zum Suizid auf die Qualität der Werke?

Wer fällt mir spontan ein? Tucholsky, Stifter, Pavese. Fangen wir mit Tucholsky (1890 -1935) an. Wir wissen nicht einmal mit Bestimmtheit, ob er sich tatsächlich absichtlich getötet oder nur in der Dosis eines Mittels geirrt hat. Ersteres erscheint mir noch immer wahrscheinlicher. Viele kennen seine berühmte Treppe, diese Skizze aus dem schwedischen Exil mit den drei Stufen: Leben – Schreiben – Schweigen. Das kann man als Ausdruck einer präsuizidalen reaktiven Depression auffassen. Tatsächlich hatte er als deutsch-jüdischer Emigrant ohne materielle Absicherung Gründe, depressiv zu sein. Er hatte alles verloren: frühere Publikationsmöglichkeiten und die Illusion, mit dem Geschriebenen etwas bewirkt zu haben. In seinen Schriften vor 1933 kündigt sich für mich die spätere Verzweiflung nicht an. Sicher, da ist viel Skepsis und gelegentlich lyrische Melancholie, doch Selbstmord ist noch kein Thema. Er resultiert erst aus dem Scheitern als Schriftsteller, ist auf äußere Faktoren zurückzuführen.

Löst es immer noch Befremden aus, über Stifters (1805 – 1868) Tod die Wahrheit zu sagen? Der gute alte Seelenfrieden-Stifter ein Selbstmörder? Immerhin hat schon Thomas Mann von seinem „blutig-selbstmörderischen Ende“ gesprochen. Gewiss, er war krank, doch nichts berechtigt uns zu der Annahme, er sei nicht bewusst von eigener Hand gestorben. Ein Unfall, ein Missgeschick, bei dem er sich nachts mit dem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten hat? Das ist absurd. Der Kontrast zwischen dieser Todesart und den Tendenzen seines Werkes springt ins Auge, er ist hochgradig verdächtig. Verrät nicht bereits sein Werk bei aller thematischen und stilistischen Größe permanente Anspannung? Da wurde etwas nur mühsam gebändigt. Er schrieb gegen die „unteren“ Mächte an, er bannte sie für lange Zeit – bis es nicht mehr gelang. Stifters Suizid bestätigt so gesehen die Niederlage eines sich verantwortlich fühlenden Subjekts gegenüber einer als verderblich angesehenen vorherrschenden Zeitströmung.

Cesare Pavese (1908 – 1950) war in den ersten Nachkriegsjahren Italiens wichtigster und angesehenster Romancier. Seine neorealistischen Werke haben sich bis heute lebendig erhalten. Liest man sein langjähriges privates Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“, lernt man einen von Selbstzweifeln und Selbsthass Geplagten, einen zunehmend Zerrissenen kennen. Seine Bücher erscheinen einem dann wie Stücke lebendigen Fleisches, aus ihm selbst herausgeschnitten. In ihnen werden Not, Untergang und Tod lange den wichtigsten Nebenpersonen zugeordnet. Oder es berichtet ein Ich-Erzähler von ihnen, von seiner eigenen Schuld, seinen Schuldgefühlen. Da gibt es einen querschnittsgelähmten jungen Mann, dem der beste Freund die Freundin ausspannt. Es gibt eine sehr traurige, verspätete Hochzeitsreise nach Genua, auf der der Mann die Frau seelisch so sehr verletzt, dass sie bald dahinkümmert und stirbt. In „Die Selbstmörder“ hat der Ich-Erzähler einen Jugendfreund zum Freitod verführt, er erzählt es später seiner Geliebten, die sich ihrerseits bald mit Gas vergiftet.

In Paveses letztem Roman „Die einsamen Frauen“ tritt erstmals bei ihm eine Ich-Erzählerin auf. Sie kehrt nach Turin, der Stadt ihrer wie des Autors Kindheit, zurück und findet nur Beziehungslosigkeit und Leerlauf vor. Am Anfang der Geschichte misslingt einer jungen Frau ihrer Umgebung der Selbstmord in einem Hotel und am Ende tötet sie sich doch. Dazwischen eine Handlung voller Desillusionierung, auf eine so karge, verzichtende Weise erzählt, dass es schon wieder betörend zu lesen ist.

Pavese fuhr bald nach Erscheinen des Buches – auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angelangt – in seinem Wohnort Turin mit der Straßenbahn zu einem Hotel. Er nahm ein Zimmer und rief von dort mehrere Frauen seiner Bekanntschaft an. Keine wollte jetzt noch zu ihm kommen. Da schluckte er die bereitgehaltene Überdosis Tabletten. Zehn Tage davor hatte er sich notiert: "Ich habe ein paar Jahre meine Schäden ignoriert, habe gelebt, als existierten sie nicht … Ich habe auf dieser Erde nichts mehr zu wünschen übrig außer jener Sache, die fünfzehn Jahre Bankrott nunmehr ausschließen. Dies der Abschluss des nicht beendeten Jahres, das ich nicht beenden werde.“

Die letzte Eintragung in seinem Tagebuch ist vom 18.8.1950 – neun Tage vor seinem Tod – und lautet in der Übersetzung von Charlotte Birnbaum folgendermaßen: „Die im Geheimsten gefürchtete Sache geschieht immer. Ich schreibe: o Du, habe Mitleid. Und dann? Es genügt ja ein wenig Mut. Je bestimmter und genauer der Schmerz ist, umso mehr schlägt der Instinkt des Lebens um sich, und die Idee des Selbstmords sinkt. Es schien leicht, wenn man daran dachte. Und doch haben es kleine Frauen getan. Es braucht Demut, nicht Stolz. All das macht Ekel. Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.“

Im Fall von Pavese erscheint das Motiv für den Selbstmord allein im Individuum begründet. Und nur bei ihm kündigt sich der Freitod lange vorher in seinen Texten an, trägt zu ihrer Melancholie wie Qualität bei. Gilt also: Je zentraler in der Persönlichkeit verankert, desto fruchtbarer und ästhetisch ergiebiger der Todeswunsch?




Kenon - 29.10.2016 um 10:12 Uhr

Zitat:

Je zentraler in der Persönlichkeit verankert, desto fruchtbarer und ästhetisch ergiebiger der Todeswunsch?

Eine seltsame, wenn nicht gar zynische Frage, mit der Du Deine ansonsten interessante Betrachtung schließt. Mir stellt sie sich so nicht. Ich finde den Begriff "Todeswunsch" unglücklich und denke auch nicht, dass dieser irgendwie in einer Persönlichkeit verankert ist. Eine Selbsttötung aus rein seelischen Gründen ist immer vermeidbar. Dazu braucht es häufig Hilfe von außen.

Oft genießen wir die Früchte der Leiden der anderen. Ich würde liebend gern auf die Werke vieler Autoren, die ich schätze und die sich selbst getötet haben, verzichten, wenn sie denn ein schöneres Leben gehabt hätten.

All die toten Buchstaben wiegen ein Menschenleben niemals auf.




ArnoAbendschoen - 31.10.2016 um 10:19 Uhr

Kenon, deine Kritik am letzten (fragenden) Satz ist ethisch gut begründet und leicht nachvollziehbar, besonders bezogen auf noch lebende Autoren und ihr Umfeld.

Auf der anderen Seite sind jene von eigener Hand gestorbenen Autoren ja eben tot und durch kein Wünschen mehr lebendig zu machen. Ehren wir ihr Andenken nicht gerade dadurch, dass wir uns um Verständnis der Zusammenhänge zwischen Werk und Freitod bemühen?

Arno Abendschön




URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=5401
© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz // versalia.de