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-- Lektüregespräche
--- September 2016

Kenon - 14.09.2016 um 23:36 Uhr

Joseph Roth - Der stumme Prophet

Joseph Roths Protagonisten haben sich oft ein schönes Leben ausgemalt und sind dann doch nur an der Banalität des Lebens Scheiternde. Bildung, Karriere, Frauen, Wohlstand - ein Traum. Schmuggel, Desertion, Verschwörung, Spionage, Revolution, Alkoholismus, Mord, Krieg - die Wirklichkeit. Unvollendet wie Roth selbst ist diese Erzählung. Unvollendet und liebenswürdig.

Zitat:

Seit langem schon stehn die Arbeiter in den Fabriken, kleine Mädchen kleben Hülsen, große Männer schneiden Stahl. Längst schon exerzieren Soldaten auf den Wiesen. Trompeten schmettern. Indessen wird es zehn Uhr, vor den Ämtern fahren die Hofräte und die Minister vor, unterschreiben, unterschreiben, telegraphieren, diktieren, telephonieren; in den Redaktionen sitzen Stenographen, nehmen auf, geben's den Redakteuren, die vertuschen und offenbaren, verhüllen und enthüllen. Und als ob den ganzen Tag nichts geschehen wäre, schrillen am Abend die Glockenzeichen, und die Theater füllen sich mit Frauen, Blumen und Parfüm. Und dann schläft die Welt wieder ein.




ArnoAbendschoen - 16.09.2016 um 21:11 Uhr

Ja, das gefällt mir doch viel besser als das Vormonatliche - das Zitat, noch nicht der mir bislang unbekannte Roman von 1928/29, der vermutlich lohnend sein dürfte. Aus den zitierten Zeilen spricht wohl auch der vorzüglich beobachtende und formulierende Reporter Roth.

Etwa zur gleichen Zeit - 1927 - schrieb Roth über meine eigene Heimatstadt für die "Frankfurter Zeitung" wunderbar treffende Impressionen nieder. Ich verzichte hier aufs Zitieren, da ich dann damit so schnell nicht aufhören und infolgedessen evtl. Probleme mit dem Urheberrecht bekommen könnte ("Briefe aus Deutschland", Gollenstein Verlag 2007).

Arno Abendschön




Kenon - 16.09.2016 um 23:48 Uhr

Roth ist seit 2010 gemeinfrei - ebenso wie Freud und Toller.

Zitat:

Ihre Geburtsorte liegen in Mähren, Galizien und der Provinz Posen. Gestorben sind sie in London, New York und Paris, alle im Jahr 1939. Das Inferno des Zweiten Weltkrieges mussten sie nicht mehr erleben.

Quelle: Freud, Roth und Toller sind jetzt gemeinfrei (Die Welt)




ArnoAbendschoen - 17.09.2016 um 11:19 Uhr

Gut, Kenon, dann doch ein Zitat:

„Sie (d.h. die Hauptstraße) verläuft in Windungen vom Bahnhof bis zu ihrem Ende und bekommt jedesmal, ohne ersichtlichen Grund, einen anderen Namen. Sie wirft Plätze wie Blasen. Das Gelände ist uneben, die Natur hat sich alle Mühe gegeben, hier die Entstehung einer Stadt zu verhindern, aber es hat ihr nicht geholfen, der Natur. Sie mußte zusehen, wie man Löcher in die Erde schnitt, in den Bauch drang, das Eingeweide entfernte, immer tiefer bohrte, höhlte, Erze förderte. Werke anlegte, Eisen anzündete, dem Feuer die Eigenschaften des fließenden Wassers aufzwang und Wasser verwandelte in stinkenden Rauch... Über der Stadt schwimmen Wolken. Nicht echte, himmlische, sondern künstliche: Industriewolken.“ Gut beobachtet und prägnant formuliert.

Dreißig, vierzig Jahre später war es noch ebenso. Ich kenne selbst aus diesen Berichten bisher nur Zitate, will aber nun das ganze Buch haben.

Arno Abendschön




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