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-- Lektüregespräche
--- März 2016

Kenon - 11.03.2016 um 20:20 Uhr

Robert Adams - Why people photograph

Ein Buch, das enttäuscht, weil es nur oberflächlich streift, was der Titel verspricht: Der heutzutage zeitlosen Frage nachzugehen, warum Menschen fotografieren. Nur etwas mehr als 20 Jahre alt, ist das Buch doch aus einem ganz anderen Zeitalter: Fotografie war damals zwar bereits ein Massenphänomen, doch noch auf die klassischen Medien des Drucks, insbesondere das Buch, und Ausstellungen angewiesen, um einem größeren Kreis von Betrachtern zugänglich zu werden und zudem mit einigen mechanischen, chemischen und auf die einzelne Auslösung heruntergebrochen auch ökonomischen Hürden ausgestattet. Das ist, wie wir alle wissen, heute ganz anders: Jeder, der des Sehens mächtig ist, über eine Kamera und einen Internetanschluss verfügt, kann seine Auslöseergebnisse aller Welt zeigen. Robert Adams hat sich noch auf einige wenige Fotografen konzentrieren können und sie in einen elitären Kreis - "Examples of success" - gestellt; heute findet man solches Material zumindest hunderttausendfach. Das schmälert den Rang der Fotografie als Kunst, ist jedoch wunderbar demokratisch. Wer dem nachttrauert, kann gern wieder analog fotografieren.


Rudolf Bultmann - Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik

Theologie ist wie Philosophie doch größtenteils Beschäftigung mit von ihr selbstgeschaffenen Problemen. Sie mag wertlos sein, vertreibt aber die Zeit, von der, wenn im Glücke stehend, man im Leben doch einige hat, und sie kann durchaus Spaß machen. Eine Religion, die sich nicht ständig neu am Leben ausrichtet, ist tot und wird bald verschwinden. Ohne die Bultmanns wäre der Spuk also bald vorbei, und es ist doch verwunderlich, wie man so einen alten Stoff wie das Neue Testament hin und her wenden kann, dass er, wenn schon nicht gleich nach Ariel Color, doch ein klein wenig nach Frühling riecht.
Meine Ausgabe ist übrigens ein vor 52 Jahren gedrucktes Taschenbuch - kaum gilblich, wirkt es wie frisch gepresst. Die Prospektanforderungskarte steckt auch noch - adressiert u.a. an "Hamburg 40".

Zitat:

Mit Hilfe der Naturwissenschaften versuchen die Menschen, die Welt in Besitz zu nehmen, in Wirklichkeit aber nimmt die Welt Besitz vom Menschen. In unserer Zeit können wir sehen, wie weit der Mensch von der Technik abhängig ist und wie weit die Technik schreckliche Konsequenzen mit sich bringt.




Kenon - 19.03.2016 um 22:55 Uhr

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Ein verstörendes, schwer erträgliches Werk, das nur durch das Bedenken der zeitlichen Umstände eine Milderung in seiner Beurteilung erfahren kann: Adorno befand sich als Geistesarbeiter von seinen Honigtöpfen und seiner Sprache abgeschnitten in der Emigration, der Zweite Weltkrieg war im Gange, die Deutschen führten den Holocaust durch - da ist die Verzweiflung des Autoren in seinen 153 Kurztexten nachvollziehbar. Der Untertitel "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" verheisst ja bereits nichts gutes: Genau genommen ist wirklich alles schlecht. Die Eltern, die Familie, sogar die Wohnungseinrichtungen, die Beziehungen der Menschen zueinander, ihre Wahrheitstreue, die kapitalistischen Verhältnisse erst recht. Adorno, der sehr sicher eine harte Zeit hatte und vielleicht sogar depressiv war, wird zum gnadenlosen Richter, der nichts gelten lässt. Er bezieht sich auf eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat - eine mythische Vorzeit im dialektischen Schleier. Das ist der Hebelpunkt, von dem aus er alles verteufeln kann, ohne genauere Gründe anzugeben. "Minima Moralia" ist - um es etwas stärker zu verkürzen - Geschmack, sprachliche Potenzschau, intellektuelle Erektion. Natürlich enthält das Buch Sätze wie "Es gibt kein richtiges Leben im falschen.", die ähnlich wie Herbert Marcuses Ausspruch "Another life is possible." zu vielzitierten Klassikern geworden sind und zahllose Menschen bewegt haben. Aber was ist denn eigentlich dieses falsche Leben? Und wer kann das beurteilen?

Die Philosophie ist übrigens weder eine fröhliche (Nietzsche) noch eine traurige (Adorno) Wissenschaft, weil sie gar keine Wissenschaft ist.




Itzikuo_Peng - 22.03.2016 um 18:20 Uhr

Zitat:

Die Philosophie ist übrigens weder eine fröhliche (Nietzsche) noch eine traurige (Adorno) Wissenschaft, weil sie gar keine Wissenschaft ist.

Provok, provok. :) Will ich auch gar nicht thematisieren; soll sich doch jedes die Kanülen im Schädel verrenken, wie es will, und das dann benennen, wie es will.

Ich lese im Schneckentempo hie und da in Thomas Pynchons Bleeding Edge, Ringelnatz alle Gedichte, schön eins nach dem anderen (schönes Diogenes-Buch), Das Lesebuch des Günter Bruno Fuchs (Baujahr 1970 Carl Hanser Verlag), Sach: Ursula Nuber über den Eigensinn.




ArnoAbendschoen - 23.03.2016 um 11:26 Uhr

Dem Riesen Adorno - denn das war er gleichwohl - gerecht zu werden, gelingt einem gewiss nicht mit einigen Sätzen, mir auch nicht. (Meine Adorno-Lektüre liegt schon Jahrzehnte zurück.) Insgesamt neige ich heute selbst der Kritik zu, wie sie Kenon hier äußert. Sie ist in ihrer Tendenz ja auch nicht neu, sondern wird seit Jahrzehnten so oder ähnlich und in teils umfangreichen Abhandlungen formuliert.

Nur ein Aspekt noch: Aufffallend bei Adorno ist die Kongruenz von Radikalität des Inhalts und Strenge der Form. Letztere teilt er mit vielen anderen Großen des frühen 20. Jahrhunderts. Dieses Hohepriesterliche findet man z.B. schon bei Karl Kraus und Stefan George. Es ist auch bereits in Flauberts Vergötterung des Stils enthalten. Adorno kommt aus einem großbürgerlichen Haushalt, in dem der intensive Kontakt mit der Hochkultur Alltag war. Dort ist er geprägt worden, und man kann sich fragen, inwieweit sein späteres Denken bestimmt wurde von jenem früh entwickelten Formgefühl. Entsprechen sie einander nicht, das autonome Kunstwerk und die Negation des Realen?

Das Problematische an Adorno scheint mir die wechselseitige Durchdringung der künstlerischen und wissenschaftlichen Sphären bei ihm zu sein, in denen er zu Hause war und sich betätigte: Komponist und Musiktheoretiker, Philosophie (ja, sie ist zumindest keine Wissenschaft) und Soziologie.

Nur am Rand: Seine materiellen Verhältnisse in den USA scheinen nicht schlecht gewesen zu sein. Sie erklären kaum das absolut Bittere seiner Gedanken in dem hier thematisierten Werk. Der Verlust der muttersprachlichen Umgebung könnte bedeutender gewesen sein.

Arno Abendschön




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