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-- Aesthetik
--- Dekonstruktion von Mythos im Film

ArnoAbendschoen - 05.01.2016 um 22:49 Uhr

In Omar Flores Sarabias Film „Peyote“ unternehmen zwei junge Männer spontan einen Trip von San Luis Potosí nach Real de Catorce. Dort angekommen streifen sie durch die museale Kleinstadt. Marco, der Ältere der beiden, fragt Pablo nach dem Plan von San Luis Potosí – für die meisten Mexikaner Bestandteil ihres Wissens über die jüngere Landesgeschichte. Diesen Plan hat der spätere Präsident Madero (1873 – 1913) mit anderen im US-Exil verfasst, 1910 in San Luis Potosí veröffentlichen lassen und damit den Startschuss für die im Verlauf erfolgreiche mexikanische Revolution gegeben. Das Dokument spielt hagiographisch eine ähnliche Rolle wie die Erstürmung des Winterpalais für die russische Oktoberrevolution von 1917. Als bloßes Papier ist es angenehm unblutig wie jenes Ereignis in St. Petersburg und damit hervorragend zur Begründung eines Mythos geeignet, der vom in beiden Fällen später reichlich geflossenen Blut ablenkt. Die fortlaufende Erinnerung daran dient heute vor allem der Legitimation der seitdem die Macht innehabenden politischen Klasse. Dass Madero als gemäßigter Präsident schon 1913 gestürzt und bald darauf ermordet wurde und sich die Revolution erst danach voll realisieren konnte, verschafft dem Plan von San Luis Potosí eine zusätzliche tragische Note.

An einer solchen nationalen Reliquie vergreift man sich nicht. Doch eben das tut Marco, der mit Pablo einiges vorhat. Der erst Siebzehnjährige spult zögernd ab, was er in der Schule gelernt. Darauf Marco: Das erfindest du jetzt oder man hat es dir falsch beigebracht … Und dann macht er ihm weis, der Plan sei tatsächlich in Real entworfen worden, und zwar beim Ficken! Madero habe da einen Schatz gehabt und um ihn zu retten usw. usf. Es ist alles erfunden, doch Pablo leiht willig sein Ohr. Erst als das Geschlecht des „Schatzes“ sich als maskulin herausstellt, wird er bockig: Madero ein „maricón“?! Sie beginnen die Frage zu erörtern, ob Helden schwul sein können. Dann ein Schnitt und Marco lehnt an einer hohen Steinmauer, blickt zärtlich auf Pablo herunter, sagt: Und das Beste an der Geschichte ist, dass du sie geglaubt hast. – Pablo fühlt sich zum Widerspruch verpflichtet und er setzt an zu sagen, Madero sei kein „maricón“ gewesen. Da ihm aber das Thema in der Öffentlichkeit peinlich ist, sagt er’s ihm ins Ohr und muss sich dabei recken und zu ihm hinstrecken. Es sieht ganz so aus, als ob er ihn gleich umarmen und küssen würde. Der tote Präsident ist schon nicht mehr das Thema, und am Abend hat Marco seinen eigenen Plan von San Luis Potosí in die Tat umgesetzt.

Die kleine Szene ist nicht nur hübsch anzusehen, sie scheint mir wie manches schon bei dem etwas älteren Julián Hernández („Mil Nubes“) für eine Tendenz im lateinamerikanischen Film zu stehen. Es ist da eine Art von Entmythologisierung am Werk, bei der Mythen zum Zitatensteinbruch werden, aus dessen Trümmern rein private Welten neu entstehen.




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