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-- Prosa
--- Nasengeschehnis, rot -von Wendel Schäfer

vimana - 29.03.2015 um 19:06 Uhr

Jetzt behutsam mit gestreckten Fingern unauffällig/nebenbei in die Außentasche des Jacketts takeln, als lauere dort eine gespannte Mausefalle. Und ertastet auch schon das Mitbringsel, eine Pappnase, gemeine Knollennase, oder einfacher, Fastnachtsnase. In derartigen Manipulationen hat der Konzertbesucher, Abonnent seit ungezählten Spielzeiten, eingeübte Fertigkeiten. Er weiß sogar mit Daumen, Ring- und Mittelfinger die störrischsten Bonbons aus ihrer Verklebtheit zu lösen, wobei der Kleine und der Zeiger sich wie Büroklammern über den Taschenrand nach außen einklinken, um dann das süße Objekt mit lässigem Schwung in den Mund zu bugsieren, wobei für eine Weile die gehöhlte Hand an den Lippen verbleibt und salopp geöffnet vorgibt, ein Hüsteln zu dämpfen. Er zelebriert das immer so, dass bei besonderen Geschehnissen die Umsitzenden es registrieren müssen, sich aber nie ganz sicher sind und in unangenehm/ärgerlicher Irritation verharren.
Besondere Geschehnisse sind Leseabende, Vorträge, allerlei Festakte, Theateraufführungen und eben Konzerte und überhaupt andachtsschwangere Momente, zu denen Menschen sich verklumpen und stummergriffen Fremdeinwirkungen hingeben.
Und heute ist ein besonderes Geschehnis. Ein Gastkonzert der Staatsphilharmonie zum Saisonauftakt mit Beethovens Dritter Sinfonie, der Eroica. Der erste Satz ist noch angetan, das Auditorium vom lästigen Novemberhusten zu befreien. Besonders wirkungsvoll und artifiziell im Takt der markanten Sechserschläge. Gleich mit dem Beginn des zweiten Satzes wird es ernst, todernst. Wie immer, wenn Heroen zu Grabe verbracht werden, oder vom Krieg zerschlagene Krüppel zum Siege paradieren müssen.
Der Abonnent umfingert die Attrappe und fördert sie hervor, die knollige Pappnase, rot. Bringt sie körpereng höher, hohlhandverdeckt bis in Brusthöhe, hält ein, sichert mit hin und her fliegenden Augäpfeln und drückt sie sich auf. Wirft jetzt trotzig den Kopf zurück und lauscht mit versteinerter Miene den traurigen Klängen.
In solchen Unschuldsspielchen kennt sich der Abonnent aus. Seit der Schulzeit schon. Von seinem Bankvordermann, der bei nicht näher zu lokalisierendem Klassenradau den Kopf zu ihm drehte, ein kurzes durchdringendes Röhren ausstieß, blitzschnell zurückfuhr und mit aufmerksamstem, lammfrommem Gesicht den Lehrer fixierte, der froh/erleichtert, die Lärmquelle ausgemacht zu haben, sofort über ihm war, dem Ahnungslosen und ihn mit einem Eintrag oder einer Seite aus dem Lesebuch abstrafte.
Ein erster verstohlener Blick von seiner stämmigen Nachbarin, die ihm regelmäßig die gemeinsame Armlehne nimmt, wird sofort abgebrochen, kommt zögerlich wieder, wie die erschreckte Schnecke erneut ihre Stielaugen ausfährt, zuckt nochmals zurück, schaut dann schon forscher und beim vierten Anlauf entrüstet mit einem Schnauben und Aufwuchten des Fleisches, dass Unruhe aufkommt, sich fortpflanzt zum anderen Nachbarn, einem Nadelstreifenmann, weiterschleicht zu den Übernächsten, die Vorderleute angreift, zurückkriecht in die hinteren Reihen, sich im ganzen Block ausbreitet, über die schmalen Flure hinüberleckt, zu den Emporen aufzüngelt, am Ende hochschlägt zum Orchester, die Musiker erfasst und den Dirigenten verschlingt. Die tragischen Töne verebben im Tumult und verstummen endlich wie unter Grabeserde verschüttet.
Mitten im Durcheinander bewahrt nur er, der Abonnent, Gelassenheit. Hockt wie ein Fels, das Programmheft in artig gefalteten Händen. Die Pappnase hat er längst abgesetzt, hinter einem unschuldig weißen Taschentuch zwischen den Knien auf den Boden gelassen und mit gezieltem Schuhstupser einige Reihen nach vorne gekickt.
Panikartig, als stehe das Konzerthaus in Flammen hasten die Besucher zu den Ausgängen. Der Abonnent versteht es mit wendigen Zickzackschritten im Menschenknäuel aufzugehen. Unten im Foyer lehnt er sich entspannt an eine Säule und beobachtet das Spektakel.
Die Menge schwappt die Treppen herab, plündert die Garderobe und durchstößt die Portale ins Freie. Da schiebt die fette Nachbarin vorüber, dort rudert der Nadelstreifenmann, weiter oben noch zusammengedrängte Musiker wie verschreckte Pinguine, die Instrumente an sich gedrückt, als gelte es das Allerheiligste zu retten, mittendrin ein in Schweiß und Frust gebadeter Dirigent.
Und alle tragen sie in erhitzten Gesichtern Pappnasen, Knollennasen, blutrot.
Der Abonnent steht plötzlich nackt. Mit verlorenem Kopf schwankt er den fliehenden Menschen hinterher. Draußen in der Dunkelheit ist er irgendwie auf die Fahrbahn geraten. Ein wegbrausendes Taxi hat ihn erfasst und auf den Asphalt geschleudert. Er liegt auf dem Gesicht. Wässriges Blut sickert aus dem geplatzten Schädel - und seine Nase nur noch fleischknollige Masse – blutrot.




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