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-- Lektüregespräche
--- März 2015

ArnoAbendschoen - 06.03.2015 um 21:39 Uhr

Für mich ist es nach Jahrzehnten eine Wiederbegegnung:

Die Geschichte vom Prinzen Genji (Genji Monogatari)

Wie damals tauche ich wieder sehr schnell ein in eine gleichermaßen vertraute wie fremde Welt. Es geht einerseits in diesem erotisch-psychologischen Riesenroman (etwa 1200 Seiten in der Insel-Taschenbuchausgabe) um die Grundtatbestände und -situationen menschlicher Existenz: Liebe, Macht, Prestige, Intrigen usw. - und andererseits spielt all das in einer doppelt hermetischen Welt, einem aristokratischen Japan um das Jahr 1000, das zugleich merkwürdig zeitlos wirkt, als wäre seine Kultur immerwährend, nie einer Veränderung unterworfen.

Diese Mischung aus Vertrautestem wie Fernstem berührt vom ersten Kapitel an so stark, dass die üblichen Fragen, die mit dem Werk verbunden werden, mich bald kaum noch interessieren: Ist es etwa tatsächlich der allerfrüheste Roman der Weltliteratur? Und wer hat ihn geschrieben, ganz oder teilweise?

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich eine Nachdichtung vor mir habe, eine Übertragung ins Deutsche auf der Grundlage einer anderen Übertragung ins Englische.

Es gibt so viele hübsche Stellen, an denen ich spontan lachen muss. Etwa die: "´Es besteht bei Männern wie bei Frauen eine Neigung´, sagte Uma no Kami, ´sobald sie ein wenig Wissen irgendwelcher Art erworben haben, es aufs vorteilhafteste zur Schau stellen zu wollen. Alle Schwierigkeiten in den drei Geschichtsschreibern und fünf Klassikern gemeistert zu haben, ist kein Weg zur Liebenswürdigkeit ...´"


Faszinierend auch der Eindruck, wie stark dieses Alltagsleben von Kunst, Literatur, insbesondere von Lyrik durchdrungen gewesen zu sein scheint. Und es ist eine Welt, deren Umgangsformen von einem dominiert werden - der Anspielung.

Werde ich Wochen oder Monate brauchen bis zur letzten Seite?




Kenon - 06.03.2015 um 23:13 Uhr

Zitat:

Werde ich Wochen oder Monate brauchen bis zur letzten Seite?

Eigentlich ist das Leben zu kurz für derart dicke Bücher. Oder es gibt zu viele Bücher, um gerade die dicken zu lesen. Und doch gibt es dicke Bücher, die es lohnt zu lesen. Aus meiner Erfahrung gehören vor allem die von Dostoyevski dazu. Nicht dazu gehört bspw. Adalbert Stifter´s "Nachsommer": Sprachlich ist er zweifelsfrei eine große Leistung, allerdings müsste ich schon längere Zeit im Krankenhaus liegen, um mich der Erzählgeschwindigkeit des Romans anzupassen und dem Buch eine zweite Chance zu geben.

Zur Geschichte vom Prinzen Genji: Die Insel-Ausgabe soll aus dem Englischen übersetzt worden sein ("Nach der englischen Übertragung von Arthur Waley deutsch von Herbert E. Herlitschka"). Macht sich das ohne Vergleich bemerkbar? (Die Ausgabe aus dem Manesse-Verlage hat sogar über 1900 Seiten und einen fürstlichen Preis).

***

Bei mir geht es diesen Monat literarisch sehr leicht her:

Tom Clancy / Mark Greaney - Command Authority

Dieser am 3. Dezember 2013 veröffentlichte US-amerikanische Polit-Thriller ist auf tragische Weise weitsichtig gewesen, weil er vieles von dem, was der Ukraine durch Russland in den letzten 12 Monaten angetan worden ist, vorweggenommen hat. In den Schilderungen der gesellschaftlichen Zustände in Russland ist das Buch um Akkuratheit bemüht, es gibt viele fiktionalisierte Zitate aus der jüngeren Geschichte des Landes: Alexander Litvinenko und Bill Browder - um lediglich zwei zu nennen; nur Putin heisst bei Clancy Volodin:

Zitat:

Russia will invade Ukraine, probably within the next few weeks. They will annex the Crimea. From there, if they meet no resistance from the West, they will take more of the country, all the way to the Dnieper River. Once this is achieved, I believe Volodin will set his eyes on making beneficial alliances from a position of power, both in the other border countries and in the former nations of the Warsaw Pact.

Ganz so weit ist es zum Glück noch nicht gekommen.

Zitat:

“Volodin’s aim is to institute something like a new Warsaw Pact. Once that happens, in addition to hundreds of millions of people losing their liberty and self-determination, Europe will be completely squeezed.”

Jack Ryan Jr., der Held des Romans, hat natürlich Superkräfte, mit denen er seine zahlenmäßig oft überlegenen Gegner ausschaltet. Das hat schon sein Papa Jack Ryan in den 80er und 90er Jahren so gemacht. Es ist eben Unterhaltungsliteratur.

Im Deutschen trägt das Buch den Nebentitel "Kampf um die Krim".

Schön, wenn das alles reine Fiktion geblieben wäre.

Die FAZ hat vor fast einem Jahr (am 07.03.2014) lakonisch gefragt:

"Wenn Tom Clancy es wusste, wieso nicht die EU?"




ArnoAbendschoen - 06.03.2015 um 23:43 Uhr

Kenon, nur um die Stichworte aufzunehmen: Sehr lange Werke können uns einen Eindruck vom organischen Zusammenhang allen Lebens vermitteln. Schon deshalb würde ich nicht auf sie verzichten wollen. Große Literatur und Zeitökonomie passen nicht besonders gut zusammen. Zu wessen Lasten geht das wohl?

Dostojewskis Rang ist natürlich über jeden Zweifel erhaben. Aber ich gestehe, als junger Leser auch von Stifters "Nachsommer" stark profitiert zu haben. Das ist eine perfekte Welt für sich. Dagegen ist sein "Witiko" wirklich vergebliche Lesemüh.

Für den Ukraine-Lesetipp bin ich nicht empfänglich, da ich das Literarisieren und Fiktionalisieren von Zeitgeschichte generell für verfehlt halte. Solche Produkte kommen mir, unabhängig von ihrer Tendenz, immer ein wenig wie Wolpertinger vor.

Ach nein, Vergleiche zwischen den einzelnen Genji-Ausgaben kann ich leider nicht anstellen. Da müssten die Japanologen ran.

Arno Abendschön




Kenon - 09.03.2015 um 00:58 Uhr

Zitat:

Das ist eine perfekte Welt für sich.

"Perfekt" und "für sich" sind für mich genau die Problempunkte: Alles sehr schön gedrechselt - und was geht es mich an? Ich bin durch Nietzsche und Bernhard auf das Buch aufmerksam geworden. Nicht unbedingt Vorbilder. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass man in dieser Welt aufgehen kann.

Dostoyevski habe ich in meiner Jugend gelesen. Vielleicht würde ich ihn heute auch nicht mehr mögen. Das kommt vor. Camus finde ich z.B. heute abscheulich und habe ihn früher sehr gemocht. Sicherlich gibt es da noch mehr, von dem ich ein nicht mehr aktuelles Urteil aus der Vergangenheit mit mir herumtrage.

Zur Zeitökonomie / zum Stellenwert der Literatur:
Die durch den Einzelnen erlebbare Welt ist einfach zu vielfältig geworden, da hat es die Literatur schwer, attraktive Angebote zu machen. Auch sind Freiheit und Wohlstand ein Feind guter Literatur - jedenfalls der, die gerade geschrieben wird. Es ist nicht so, dass ich mir deswegen ein wenig Unterdrückung und Elend wünschen würde...




ArnoAbendschoen - 09.03.2015 um 18:05 Uhr

Ja, Kenon, man sollte Stifters "Nachsommer" tatsächlich weniger als realistischen Bildungsroman denn als Produkt eines spätbiedermeierlichen Eskapismus lesen. Aber gerade das ist kein Verdammungsurteil. Weltflucht ist ja ein ambivalenter Begriff, da steckt auch Utopie drin. Nur darf man Stifter nicht im Sinne konkreter Utopie lesen, und in seiner Romanwelt "aufzugehen", liegt mir schon ganz fern. Ich bewundere eben die Künstlichkeit seiner Figuren und sehe im Vermögen, sie herzustellen und diesen Ton über viele Hunderte von Seiten beizubehalten, etwas an sich Positives. Gerade wenn man Stifters wenig glanzvolle Vita kennt, muss es doch als Leistung imponieren, dass da einer sich eine Gegenwelt konstruieren konnte, die in der Sphäre der hohen Literatur angesiedelt ist. Also, was geht es uns an? Es sind nicht die Details der Handlung, nicht die Ideale hinter ihr, sondern allein die gestalterische Kraft, der innere geistige Widerstand gegen eine nur zu banale äußere Existenz.

Zur Zeitökonomie: Ist es denn Aufgabe der Literatur, "attraktive Angebote" zu machen? Ziemlich neoliberal formuliert ... Eher sollte sie Gegenpositionen einnehmen und das Weitere dem Lauf der Zeit überlassen, den ohnehin keiner voraussagen kann.

Arno Abendschön




Kenon - 10.03.2015 um 23:07 Uhr

Ich weiss nicht: Soll man als Literatur- und allgemeiner als Kunstfreund Nutznießer unbefriedigender Schriftsteller- und Künstlerleben sein? Ich sehe in diesen Sublimationsleistungen nichts bewunderungswürdiges mehr. Da geht zu oft einer auf der Bühne vor dem Publikum zugrunde, während er sich die ergreifendsten Töne abringt - das Publikum genießt nur, weiter nichts.



Itzikuo_Peng - 12.03.2015 um 14:40 Uhr

Zitat:

Eigentlich ist das Leben zu kurz für derart dicke Bücher. ... Und doch gibt es dicke Bücher, die es lohnt zu lesen.

Stifters Nachsommer habe ich auch nur zwanzig Seiten weit gepackt. Belletristisch bin ich eh nicht mehr so intensiv unterwegs, eher sachlich-wirtschaftlich in die Richtung "Wie-lange-machen-wir-es-noch?"

David Foster Wallace geht noch in mich oder Thomas Pynchon. Ich empfehle aber nicht von David Foster Wallace Der bleiche König oder Unendlicher Spaß. Das behalte ich für mich und wer´s finden soll, der findet´s.

Und (belletristisch) immer mal wieder zum Totlachen und/oder schmerzfreien Einschlafen Bukowski, sofern man in diesem Fall von "schön"geistiger Literatur reden mag.




ArnoAbendschoen - 12.03.2015 um 22:21 Uhr

Kenons Frage bzw. Feststellung von vorgestern erinnern mich an eine Stelle aus Brechts "Dreigroschenroman": "Das war recht, dass ihr euch einen Kunstgenuss verschafft habt." (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, das sagt Peachum oder Macheath zynisch nach einem Kinobesuch von Frau und Tochter bzw Schwiegermutter.) Mir ist das zu utilitaristisch, zu sehr auf Nutzen oder Funktion von Literatur abgestellt.

Für mich ist Literatur von keinerlei erkennbarem allgemeinem oder individuellem Nutzen. Sie dient zu nichts, sie dient überhaupt nicht. Sie ist eine mit dem Leben seit langem untrennbar verbundene Erscheinung. Das Leben selbst scheint ein Bedürfnis zu haben, sich in einem anderen Medium widerzuspiegeln und jenes Medium ist die Kunst. Die Literatur als eine Gattung der Kunst ist dann eine Art magischer Spiegel. Produktion wie Rezeption sind also nur zwei Seiten eines zwangsläufigen Prozesses, dessen Sinnhaftigkeit nicht über sich selbst verweist.

Bei der Gelegenheit noch ein Zitat aus dem Genji-Roman: "Doch grade die Tatsache, dass sie nichts besaß, was sie empfahl, machte es ihm unmöglich, sie aufzugeben, denn es war sicher, dass niemand sonst sich je die Mühe nehmen würde, sie zu besuchen." (S. 196)




Kenon - 13.03.2015 um 21:20 Uhr

Zitat:

Für mich ist Literatur von keinerlei erkennbarem allgemeinem oder individuellem Nutzen. Sie dient zu nichts, sie dient überhaupt nicht.

In diese Richtung wollte ich gar nicht diskutieren, ich nehme sie trotzdem gerne auf:

Macht es einen Unterschied, ob man ein Buch liest oder nicht? Wenn ja - und das glaube ich selbst - dann hat sie eine Wirkung. Wenn Literatur keine Wirkung hätte, bräuchte man sie nicht lesen, dann wäre Lesen eine Art Leerlauf und mit anderen Arten des Leerlaufs austauschbar.

Hat für jemanden, der Literatur an sich nicht ablehnt, jedes beliebige literarische Werk die gleiche Qualität wie ein beliebiges anderes? Wenn nicht - und das glaube ich selbst - dann lassen sich in Bezug auf literarische Werke individuelle Wertungen vornehmen und es ist einem daher nicht egal, ob man Werk A oder B liest, wenn man ihnen unterschiedliche Qualitäten zubilligt.

Ich habe also schon Wirkung und Wertung der Literatur. Was ein Autor gemeint, beabsichtigt usw. hat, kann hier vollkommen außen vor gelassen werden. Von einem Nutzen der Literatur zu sprechen ist deshalb nicht mehr weit. Dieser Nutzen oder besser diese Nutzen können vielfältig ausfallen, ich gebe einige Beispiele:

- Das Buch zu lesen war ein angenehmer Zeitvertreib.
- Durch das Buch habe ich viel über X erfahren.
- Beim Lesen des Buches habe ich gemerkt, dass mir solcherart Bücher nicht gefallen.
- Durch das Buch X bin auch noch auf das Buch Y aufmerksam geworden.
- Durch das nochmalige Lesen des Buches nach 30 Jahren ist mir bewusst geworden, wie sehr meine Meinung einem zeitlichen Wandel unterworfen ist, wie sehr ich mich offensichtlich verändert habe.
- Das Buch hat mich durch seine sprachliche Gestaltung ästhetisch berührt, die in ihm dargebotenen Bilder sind in mir zu einem wahrhaft eindrucksvollen Leben gekommen.

In all diesen Punkten steckt ein Nutzen, gerade auch in dem letzten - selbst wenn dieses rohe Wort nicht jedem schön klingt.

Literatur ist für mich keine Erscheinung. Die Sonne, der Mond - das sind Erscheinungen. Literatur ist eine kulturelle Tradition, die durch Bewußtseine erschaffen, weitergegeben und konsumiert wird, wobei die beiden letzten Verben freilich optional zu sehen sind, wenn es zur einzelnen Schöpfung geht: Nicht jede wird auf dem Markt sichtbar.




ArnoAbendschoen - 14.03.2015 um 00:10 Uhr

Nun, Kenon, unsere Auffassungen dazu werden sich kaum in völlige Übereinstimmung bringen lassen - muss ja auch nicht sein. Die Begriffe Wirkung und Nutzen sich so weit annähern zu lassen, dass sie in eins fallen, erscheint mir höchst fraglich. Bekanntlich gibt es sowohl allgemein wie auch speziell in der Literatur Wirkungen, die beim besten Willen nicht als nützlich deklariert werden können. Immerhin werden sie von dir nicht gänzlich übersehen, sie dürfen sogar das Missvergnügen des einzelnen (gebildeten) Lesers auslösen (Fallgruppe 3 deiner Aufzählung).

Mir scheint, wir fassen das Problem von unterschiedlicher Position aus auf. In deiner jetzigen Analyse kommt bemerkenswert oft das Wörtchen "ich" vor. Das ist ein Standpunkt, dessen Zentrum der individuelle Leser ist. Das ist möglich, aber nicht zwingend. Die Motive des Autors z.B. können gleichfalls Angelpunkt einer Untersuchung sein, wenn man jene nicht "vollkommen außen vor lassen" möchte. Diese Motive speisen sich vielfach eben nicht aus dem Wunsch, eine bestimmte Wirkung zu erzielen oder einen Nutzen herbeizuführen, sondern aus Situation und Vorgeschichte des Autors. Insoweit ist Literatur dann primär Dokument, meist mit einer gewissen Naturnotwendigkeit entstanden. Und man kann diese Methode erweitern, indem man sich Kollektive von Autoren und ihre Hintergründe vornimmt. Die Literaturgeschichte untersucht gewissermaßen die Sedimente der "kulturellen Tradition". Objektiv betrachtet handelt es sich um Phänomene ("Erscheinungen") geistiger Art. So gesehen ist der Begriff "Leerlauf" dann fehl am Platz, denn was real vorhanden ist, hat als Untersuchungsgegenstand ja seine Existenzberechtigung schon nachgewiesen, es sei denn, man interessiert sich nur für den geistigen Haushalt des Lesers / Nutzers.

Selbstverständlich gibt es eine Wirkungsgeschichte von Literatur. Nur möchte ich ihre Betrachtung nicht auf den Aspekt des Nutzens eingrenzen. Denkbar wäre ja auch eine Untersuchung des Schadens. Beispiele: "Mein Kampf", Trivialliteratur. Oder nehmen wir die "kulturelle Tradition" rassistischer Einstellungen, die en passant dem Leser vermittelt werden. Gustav Freytag hat "Soll und Haben" nicht als antisemitische Streitschrift verfasst, so wenig wie Th. Wolfe seine Romane, um so breiter die üble Wirkung.

Ich plädiere weiterhin dafür, literarische Werke als autonome, wenn auch historisch bedingte kulturelle Zeugnisse zu betrachten. Ihre Funktion ist, wenn überhaupt vorhanden, sekundär, vielfach nicht bezweckt und manchmal sogar paradox.

Die von dir zusätzlich aufgeworfene Frage nach der Qualität mag für die Rezeption durch den einzelnen Leser eine große Rolle spielen, sie trägt nichts zur Beantwortung der Frage bei: Warum wird überhaupt geschrieben und welche Funktion hat die Literatur in der Gesellschaft? "Man muss lesen, Céleste", sagte Proust einmal - aber nicht, da es irgendwie nützlich sein könnte, sondern, aus seiner Sicht, als originäre geistige Betätigung, wie sie auch das Schreiben ist.




Kenon - 14.03.2015 um 09:39 Uhr

Wir könnten dieses Thema sicherlich bis zum Ende unserer Tage fortführen - so tief und subjektiv ist es. Alles bleibt doch nur Meinung - gut, wenn es verschiedene gibt.
Für Dich sind literarische Werke "autonome, wenn auch historisch bedingte kulturelle Zeugnisse". Wenn etwas bedingt ist, wie autonom kann es noch sein? Für mich ist alles bedingt, steht nichts für sich, kommt nichts aus sich selbst durch sich selbst. Ich kann natürlich denken: Das Buch kommt aus dem Schrank. Das ist an sich nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist das Leben selbst, es gibt seinen vollständigen Ausdruck nur durch sich selbst, anders ist sie nicht beschreibbar.




ArnoAbendschoen - 14.03.2015 um 11:21 Uhr

Gut, Kenon, jetzt würde ich nicht mehr widersprechen wollen. Sich nicht deckende Auffassungen sind ja zumeist Teilwahrheiten und die Unterschiede zwischen ihnen vor allem auch durch Generation und Sozialisation der Argumentierenden bedingt.

Nur das noch: "Autonom" war vielleicht kein glücklicher Ausdruck. Gemeint war nur: Die Werke entstehen und existieren unabhängig von der Rezeption, also nicht, wie für die Kunst behauptet, im Auge (bzw. Hirn) des Betrachters (Lesers).

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön




Persephone - 18.03.2015 um 06:55 Uhr

Gerade beendet habe ich "Im Hause Longbourn" von Jo Baker. Dieses Buch erzählt eine Geschichte der Dienstboten, die parallel zur Handlung von "Stolz und Vorurteil" passiert. In meinen Augen ist das ein Spielverderber-Buch. Es wird mit moralisch erhobenem Zeigefinger darauf aufmerksam gemacht, dass es zu dieser Zeit viele Leute gab, die ganz andere Probleme hatten, als die Figuren bei Jane Austen.

Vorher habe ich monatelang an Balzacs Königstreuen gekaut. Nun liegt hier die Abhandlung über die Liebe von Stendhal.

Immer parallel begleitet mich seit Langem die Südstaaten-Trilogie von Julien Green. Wundervoll.




Persephone - 20.03.2015 um 06:26 Uhr


Ich mag noch einmal in der Diskussion der beiden Herren einen Schritt zurück springen und doch noch einmal nach der Motivation, ein Buch zu lesen, fragen. Zunächst einmal danach, warum jemand überhaupt lesen sollte und dann, warum derjenige dieses liest und jenes nicht.
Aus meiner Profession heraus fallen mir lauter profane persönliche Gründe dafür ein, die einerseits mit den Grundbedürfnissen nach Grawe (Bindung, Orientierung + Kontrolle, Selbstwertschutz, Lustgewinn) und andererseits den gelernten Regeln, nach denen in dieser Welt diese Bedürfnisse erfüllt werden, zusammenhängen.
Ist die Motivation des Lesers interessant?
Ich halte Motive, etwas zu tun, für wichtig und komme nun zu der Frage, ob es tatsächlich Motive gibt, die mit dem eiǵenen Psychischen Haushalt letztlich nichts zu tun haben. Oder ist das eine zynische Ansicht?
Letztlich habe ich eine begrenzte Zeit zur Verfügung und versuche zunächst einmal, diese Zeit zu nutzen, sodass es für mich irgendwie gut und stimmig ist. Dazu kann es gehören, dass ich es für gut halte, mich mit einer bestimmten Literatur zu beschäftigen.
Wenn ich danach frage, ob die Motive des Lesers interessant sind, kann ich andererseits auch fragen, ob die des Autors interessant sind. Wenn ich es für gut und richtig halte (dafür wird es wieder Gründe geben), mich damit zu beschäftigen, sind sie für mich interessant.
Hier sind Begriffe wie "Nutzen" und "Wirkung" gefallen. Was ist eigentlich Wirkung? Bedeutet "Nutzen", dass die Wirkung und die Motivation soweit zusammenpassen, dass keine oder nur wenig Frustration entsteht?




ArnoAbendschoen - 20.03.2015 um 22:24 Uhr

Persephone, zunächst bitte ich um Entschuldigung, dass ich mangels Kompetenz und Zeit die aufgeworfenen Fragen nicht mit der an sich gebotenen systematischen Gründlichkeit beantworte. Dafür will ich mich in der Weise an ihnen orientieren, dass ich schlagwortartig Stellung zu ihnen beziehe. Also:

1. Die Rolle von Motivation scheint mir bei Lektüre generell überschätzt. Lesen ist eine tradierte Kulturtechnik, deren Ausübung sich im Lauf der Entwicklung so weit verselbständigt hat, dass es wenig sinnvoll erscheint, noch nach dem Warum zu fragen. Der Mensch ist eben das Tier, das liest. Lesen ist für den Menschen längst selbstverständlich. Ergiebiger könnte die Beantwortung der Frage sein, warum Einzelne nicht lesen bzw. unter welchen Umständen dieses Phänomen gehäuft auftritt.

2. Was konkret gelesen wird, hängt von unendlich vielen Zufällen ab, die teils im Individuum, teils in der ihn umgebenden Gesellschaft zu suchen sind. Sie in ein System zu bringen, wozu könnte das dienen? Dem Marketing von Büchern auf jeden Fall. Sonst fällt mir noch nichts ein.

3. Ob die Motivation des Lesers für einen Dritten interessant ist, ist eine überwiegend subjektive Frage. Theoretisch sind so viele Antworten möglich, wie es Leser bzw. Bücher gibt. Dazu kommt, dass Interesse in den unterschiedlichsten Quantitäten vorliegen kann.

4. Die Untersuchung der Motive geht womöglich schon deshalb zwangsläufig fehl, da wir uns permanent sogar über die eigenen Motive täuschen - über die einer anderen Person ohnehin.

5. Der Versuch von hieb- und stichfesten Definitionen von Nutzen und Wirkung könnte der Beginn einer uferlosen Diskussion sein, die ich nicht führen möchte. Nur so viel: Nutzen scheint mir ein so differenzierter Begriff, dass ihn ans Vermeiden von Frustration anzubinden, einem viel zu engen Korsett gleichkäme.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön




Persephone - 26.03.2015 um 17:27 Uhr

Der Mensch als Tier, das liest. Ich glaube jetzt mal nicht, dass dies als eine Art Definition des Menschen gemeint ist, die Menschen, die nicht lesen können oder wollen, entmenschlichen will. Es ist sicherlich so, dass die meisten Menschen in der Lage sind, eine Sprache zu erlernen und ihre Elemente mit eigentlich bedeutungslosen visuellen Symbolen zu verknüpfen. Das scheint auch irgendwie biologisch verankert zu sein, da diese Fähigkeit bei bestimmten neurologischen Erkrankungen (bestimmten Formen von Schädel-Hirn-Trauma oder Apoplex etc.) selektiv beeinträchtigt sein kann. Ich würde aber nicht so weit gehen, diese Fähigkeit als Selbstverständlichkeit zu betrachten, zumal ich den Verdacht hege, dass sich das, was wir beide mit "lesen" meinen, voneinander unterscheidet. Ein Hinweis darauf ist die Behauptung, nicht zu lesen, komme gehäuft vor. Wenn ich das Lesen nicht darauf beschränke, dass jemand Tolstoi oder Proust aufschlägt, sondern ich es auch als lesen anerkenne, wenn jemand vielleicht durchblättert oder auch einen Blog aufruft, wird klar, dass aktuell wohl mehr gelesen wird, als je zuvor.
Wahrscheinlich ist es aber zweckmäßig, sich hier auf das Lesen von Büchern zu beschränken.

Ich persönlich finde die Frage nach der Motivation durchaus interessant. Dies ist so, gerade weil das eine so subjektive und schwierige Frage ist. Ich bin sehr geprägt von den psychoanalytischen Literaturtheorien nach Freud. Für mich steht der Rezeptionsprozess des Lesers/der Leserin im Mittelpunkt des Interesses, weil "jedeR" ein Werk lesen, aber nur eineR es schreiben kann. Es kann also eine Möglichkeit sein, etwas über sich selbst zu lernen und - indem man sich darüber austauscht und z. B. Motive vergleicht - den eigenen Blick auf ein Werk zu reflektieren. Das halte ich für wertvoll.

Schade, dass wir nicht über Begriffsdefinitionen diskutieren. Das empfinde ich zunehmend als erhellend und entspannend. Leider muss eine solche Analyse immer zugunsten der inhaltlichen Debatte an unbefriedigender Stelle abgebrochen werden.




ArnoAbendschoen - 30.03.2015 um 16:50 Uhr

Persephone, du sagst es: Die Frage nach der Motivation ist - auch - eine subjektive. Und weil das so ist, kann auch das Überwiegen von inhaltlicher Debatte vom Individuum ganz unterschiedlich verarbeitet werden: befriedigend / unbefriedigend.

Noch zum Begriff Lesen: Das sollte nicht auf Bücher beschränkt sein, die Lesekultur verändert sich eben. Allerdings möchte ich bloßes "Durchblättern" nicht als Lesen verstanden wissen. Damit ist noch keine Rezeption verbunden. Nicht-Lesen, also kein Verständnis für Texte zu entwickeln, ist heute durchaus ein quantitativ ins Gewicht fallendes Phänomen.

Für alle etwaigen Mitleser noch zwei Punkte, die evtl. Motivation für die Lektüre des Genji-Romans erzeugen können: historischer Hintergrund und Geschlechterdifferenz. Der Roman spielt mitten in der Heian-Zeit (794 - 1185). Ausgehend von der Übernahme des chinesischen Gesellschaftsmodells (absolutistischer Kaiser- und Beamtenstaat) war dies in Abkehr davon eine Zeit fortschreitender Refeudalisierung. Mächtige Adelscliquen bekämpften sich untereinander, machten sich den Staat zur Beute und den Kaiser zur Symbolfigur ohne Macht. Diese Tendenz zur Oligarchie ist ja eine der Konstanten in der Geschichte der Menschheit, bis heute, leider. - Sehr anschaulich vermittelt das Werk die traditionell "orientalische" Stellung der Frau, ihre extreme Abschottung nach außen, die seltsamen Konsequenzen im praktischen Umgang der Geschlechter und auch, wie Frauen sich unter diesen Bedingungen dennoch ein gewisses Maß an Einfluss zu verschaffen wussten.




Gast - 03.04.2015 um 08:44 Uhr

Sehr gut! viele Wissen.



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