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-- Aesthetik
--- GAY SEX IN THE 70s - Film von Joseph Lovett
ArnoAbendschoen - 11.12.2014 um 00:01 Uhr
Dass ein Dokumentarfilm zugleich informativ und unterhaltsam sein kann, der Streifen von Joseph Lovett, 2005 produziert, beweist es. Er lässt nach und nach etwa ein Dutzend Zeitzeugen zu Wort kommen, die meisten davon wiederholt. Unter ihnen sind Schriftsteller wie Larry Kramer, Fotografen, ein Bildender Künstler und ein Architekt. Sie reden über die alten Zeiten, da sie selbst junge Männer waren. Wir sehen dazu immer wieder Ausschnitte aus alten Filmen und Fotos, bunt oder schwarzweiß, und es erklingt Musik von damals. Mal geht es humorig zu, mal bedenklich - oder bloß sachlich. Da wird eine Welt beschworen, die es so nur wenige Jahre gab …
Zuerst ein Streiflicht über die damalige Freizügigkeit, sprich: Promiskuität in New York. (Es geht fast nur ums schwule Leben in dieser Stadt.) Dann geht es ins Detail: die aufgegebenen Piers am Hudson als Tag-und-Nacht-Revier, besonders das alte Lagerhaus am Pier 48. Und gleich daneben die Trucks, in deren Anhängern sie es damals auch toll trieben. Der Film unterbricht die Präsentation der Orte und schildert relativ breit den kulturhistorischen Hintergrund: freie Liebe und Protest gegen den Vietnamkrieg, Stonewall 1969 … Anschließend wird unverblümt über Sexpraktiken geredet, bevor die drei wichtigsten Kategorien von Treffpunkten zum Cruisen usw. abgehandelt werden: a) die Bars, b) die Saunen und c) die Discos.
Nun der Ernst des Lebens – die Drogen und die Krankheiten! Zur Erholung dann ab nach Fire Island, speziell nach Fire Island Pines und Cherry Grove. Solche Sommer gab es nie wieder …Und schließlich Aids, die Epidemie, das Sterben und der Kampf dagegen. Am Schluss versucht der Film, jene Zeitzeugen eine Bilanz ziehen zu lassen – sie fällt angemessen differenziert aus. Zugleich melden sich die Jungen von heute zu Wort: Was sie über jene Zeit denken. Wer seinerzeit selbst am sündigen Hudsonufer stand und … Nun, wenn er seitdem nicht mehr da war und es jetzt im Film wieder sieht, dann erschrickt er vielleicht – sie haben da heute einen Park wie am Rheinufer von Köln oder Düsseldorf, mit Blumen und mit Joggern, nachts geschlossen.
Der Film beschönigt nichts und ist dennoch problematisch. Die alten Männer, die zum Teil in stabilen Beziehungen leben, sind gereift, klug, sie haben schwierige Zeiten überlebt, sind an ihnen gewachsen. Man muss sich klar machen, dass sie eine Elite darstellen, dass die Harmonie, die ihr Rückblick schafft, keinem realistischen Abbild jener Zeit entspricht. US-Autoren wie etwa Larry Kramer oder Andrew Holleran haben das krasse Hell-Dunkel und die Nachtseiten von damals in ihren Romanen authentischer vermittelt. Oder man lese, was der Deutsche Barry Graves damals im "Spiegel" über die New Yorker Homosexuellen schrieb, etwa in der Nummer 51/1975: "Letzte Chance einer Liebe auf Erden". Das ist scharf beobachtet, klar analysiert und pointiert formuliert – und letztlich auch einseitig gesehen aus der Perspektive eines typisch europäischen schwulen Intellektuellen seiner Zeit.
Die Vergangenheit ist wie ein Schacht, über den wir uns beugen, und in dem es von Figuren wimmelt, voller Leben, doch das wir so, wie es tatsächlich einmal war, nicht rekonstruieren können – aber auch so faszinierend, dass wir es trotzdem immer wieder versuchen.
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