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--- Kafka in der Schule lesen

ArnoAbendschoen - 27.06.2014 um 11:32 Uhr

Wer zur Kafka-Rezeption im Netz recherchiert, stößt bald auf ein Phänomen: Schülerfrust. So liest man etwa: „Die Abi-Pflichtlektüre ‚Der Process’ war ihm zu langweilig …“ Und eine wissenschaftliche Untersuchung spricht gar von „Schockzuständen leseunerfahrener Schüler“. Gewiss war Kafka einer der ganz Großen der Literatur der Moderne – seinem Andenken erweist man einen Bärendienst, wenn man ihn der Jugend mit System verleidet. Es kommt darauf an, Texte von Kafka so zu erschließen, dass junge Menschen unmittelbaren Zugang finden, sich mit Lust auf ihre Details einlassen. Wie kann das funktionieren? Bleiben wir beim Roman „Der Prozess“ …

Man könnte damit beginnen, die jungen Leser Namen von Romanfiguren sammeln, ihre Assoziationen aufschreiben zu lassen und dann darüber zu reden. Was ist auffallend am jeweiligen Namen, welche Tendenzen zeichnen sich ab, welches Bild vom Leben steckt dahinter? Dass Kafka die Namen seiner Figuren sehr bewusst gewählt hat, wird bald deutlich. Bei einigen liegt eine Interpretation nahe, so bei Staatsanwalt Hasterer – er ist der eifervoll Hastende bei seinem Geschäft. Fräulein Montag ist der passende Name für eine puritanisch graue Maus. Doch die Mehrzahl der Namen lässt – für Kafka bezeichnend – verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu, je nach Standpunkt und Struktur des individuellen Lesers. Warum heißt die Zimmerwirtin wohl Grubach? Ist Huld für einen Anwalt, der die Interessen seines Klienten zu vertreten hat, nicht ein seltsamer Name? Der Maler Titorelli – das erinnert von fern an den großen Tintoretto, das Weglassen des N und erst recht die Endung –relli durchkreuzen die würdevolle Assoziation, verschieben sie ins Läppische. Aufmerksamen jungen Lesern wird nicht entgehen, dass der Onkel des Helden mal Karl und mal Albert heißt. Ist es ein Versehen des Autors, der Roman blieb schließlich Fragment, oder welche Bedeutung innerhalb des Textes könnte damit verbunden sein? Der Gehalt des Romans scheint sich infolge dieser Fragen wie hinter einem Spiralnebel zu verbergen. Das könnte Neugierde erregen, hinter seine Geheimnisse zu kommen.

Und der Held Josef K. – steht die Initiale für Kafka selbst? Und was signalisiert der Vorname: vielleicht keuscher Josef? Und wenn seine Freundin Elsa heißt, ist Josef K. dann etwa ihr Lohengrin: Nie sollst du mich befragen? Dass die Namenswahl sich auch auf sexuelle Problematiken bezieht – vielleicht sogar vor allem auf sie -, verrät sich schon am Beispiel von Fräulein Bürstner. Der halbwegs gewitzte Schüler kommt der Bedeutung ihres Namens mit Hilfe von www.fremdwort.de auf die Schliche …

… womit wir beim pikanteren Teil des Unterrichts angekommen sind, der noch mehr Interesse finden dürfte. Da wird es eher dem Pädagogen als den Schülern zu bunt. Viel anzügliches Material: von der simplen, nymphomanischen Gerichtsdienerfrau über Leni, Hulds Gehilfin, die Erotomanie mit Kalkül zu verbinden weiß, hin zu zwei sadomasochistischen Szenen homoerotischer Art. Und dann die kleinen Mädchen bei Titorelli mit ihrer „Mischung aus Kindlichkeit und Verworfenheit“! Selbst Titorellis Hose macht sich verdächtig, sie ist „mit einem Riemen festgemacht …, dessen langes Ende frei hin und her schlug.“ K., dem es in dieser Lasterhöhle von Maleratelier bald zu heiß wird, legt ab und die durch die Ritzen der Wand spähenden Mädchen triumphieren: „Er hat schon den Rock ausgezogen!“ Und der Maler später zu ihm: „Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett, das tut jeder, der hier hereinkommt.“

Die angeführten Stellen in der Titorelli-Episode haben zumeist vordergründig eine banale Bedeutung, die jeden erotischen Bezug zu entbehren scheint – ein augenzwinkerndes Spiel mit vorgetäuschter Harmlosigkeit. Es verstärkt noch die Komik, die schon daraus resultiert, dass K. und der Maler im Atelier juristisch spitzfindig die Abläufe eines absurden Gerichtsverfahrens durchgehen. Komik ist auch in diesem Roman ein großes Thema. Insoweit ragen zwei Nebenfiguren heraus: K.s plump-geschäftiger Onkel aus der Provinz und der Direktor-Stellvertreter mit seiner kaltschnäuzig lächelnden Überlegenheit. Eine komische Rolle spielen wiederholt Stickluft und Luftknappheit. Den stärksten tiefgründig humoristischen Effekt erreicht Kafka, wenn er Titorelli eine Serie identischer Heidebilder an K. verhökern lässt.

Kafka war freilich kein Humorist. Damit stellt sich die Frage, welche Funktion die Komik innerhalb seines Werkes hat. (Mit ihr könnte eine Unterrichtseinheit abschließen.) Ist sie mildernd, versöhnlich oder gar ein Moment der Befreiung? Erhöht sie den ästhetischen Wert eines literarischen Kunstwerks? Oder unterstreicht sie auf ihre Weise noch das pessimistische Bild vom Prozess des Lebens, das der Roman entwirft? Hält es Kafka mit Schopenhauer, der im Leben jedes Einzelnen ein Trauerspiel gesehen hat, ein zwangsläufiges und ein stets missglücktes dazu, da es den Akteuren an Wert und Würde mangele, so dass sie nur läppische Lustspielcharaktere abgäben? In der Tat sprechen die letzten acht Wörter des Romans für eben diese Sicht – „es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Man muss zugeben, das ist keine ermutigende Botschaft. Vielleicht rührt die Abneigung so vieler jugendlicher Leser Kafka gegenüber weniger von Leseunerfahrenheit her als vielmehr von instinktiver Abneigung gegen ein Wissen, das sie noch früh genug selbst erlangen werden.

Kafka in der Schule lesen oder lieber doch nicht? Vielleicht sollte man ihm zweimal im Leben lesen, d.h. in der Jugend befremdet von ihm sein, um ihm im Alter einsichtsvoll wieder zu begegnen.




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