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-- Rezensionen
--- Thomas Wolfe - Von Zeit und Strom

ArnoAbendschoen - 19.01.2014 um 21:42 Uhr

Warum ein Buch rezensieren, das seit Jahrzehnten kaum noch gelesen wird, einen Roman von 1200 Seiten, der seit langem keine Neuauflage mehr erfahren hat und den der Rezensent als Ganzes sowohl wie in den meisten seiner Teile für misslungen hält? Darum: Selten befinden sich zwischen zwei Buchdeckeln so viele negative Details in so enger Nachbarschaft mit fast ebenso zahlreichen positiven Aspekten. Die Lektüre des Romans kann sich daher als Schule des Differenzierungsvermögens erweisen. Dann weil Wolfe als Person auch ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod noch immer Empathie zu wecken vermag. Der Frühverstorbene blieb eine Art Poverello der Literaturgeschichte, mit großen Anlagen, großen Leistungen, noch größeren Defiziten, ein Objekt für witzige, dabei zugleich ihn insgeheim bewundernde Verspottung. Noch immer wird von Kritikern anlässlich einer Neuübersetzung („Es führt kein Weg zurück“) oder erstmaligem posthumem Erscheinen („Die Party bei den Jacks“) gern die Frage erörtert, unter welchen Bedingungen Wolfe noch einer der größten Autoren Amerikas hätte werden können … Schließlich aus Interesse für die Romanfiguren und ihre realen Vorbilder. Wolfe schuf nach Modellen eine amerikanische Comédie humaine der Zwischenkriegszeit, der das vom Autor beabsichtigte Überzeitliche fast ganz abgeht, die dafür jedoch von eminentem kulturhistorischem Interesse ist.

„Von Zeit und Strom“ ist die unmittelbare Fortsetzung von Wolfes erstem und so erfolgreichem Roman „Schau heimwärts, Engel!“ Thomas Wolfe ist wieder Eugene Gant und die Identität wird dem Leser bereits auf Seite 32 dadurch versichert, dass beide am gleichen Tag geboren sind: 3. Oktober 1900. Dies geschieht auf dem Bahnhof von Altamont (= Asheville, North Carolina). Eugene wird nach Harvard fahren. Um ihn zu verabschieden, hat sich ein Teil der Familie eingefunden. Bekannte Gesichter, die gemischte Gefühle im Leser auslösen - er hat sie früher plastischer beschrieben gefunden. Dann die lange Eisenbahnfahrt nach Nordosten, viel zu ausführlich der Blick aus dem Zugfenster wie die Beteuerung des Lebenshungers des Zwanzigjährigen. Die Mitreisenden sind aus der Heimatstadt und vertreten die dortige Gesellschaft: Politik, Wirtschaft, Presse. Die sie charakterisierenden Gespräche erreichen erst dann das Niveau des Vorgängerromans, als auf zwei von Eugenes Brüdern die Rede kommt. Eugene unterbricht die Reise in Baltimore, um seinen todkranken Vater zu sehen. Dieser Abschnitt könnte für sich bestehen, ginge er nicht unter in Massen mediokrer Beschreibung vorher und nachher.

Eugene und Boston … Das ist eine weitere Durststrecke für den Leser. Er erfährt wohl viele Details über das Studentenleben und das Leben in Neuengland damals überhaupt. Doch werden sie ihm zum Teil durch Wolfes krass satirische Darstellung ganzer Gruppen von Personen verleidet. Ob die Studenten in Professor Hatchers Literaturkurs oder die Iren, bei denen Eugene wohnt, oder die kleinbürgerliche Simpson-Familie, mit der er privat verkehrt – stets werden aus den Mitgliedern einer solchen Gruppe Karikaturen, die nach demselben Muster gefertigt sind: lächerliche Puppen, die er enttäuscht hinter sich lässt. Es drängt sich der fatale Eindruck auf, Wolfe habe sich mit dem Roman eigenen Frust von der Seele geschrieben. Einen Ausgleich soll wohl der phantastische Onkel Bascom bieten, bleibt aber trotz überbordender Details ein wirres Phantom ohne Bezug zur übrigen Romanwelt.

Eugene muss heim, als sein Vater stirbt. Dessen Exitus im Familienkreis ist ein schwächerer Aufguss von Bens Tod in „Schau heimwärts, Engel!“ Dann bleibt der Held längere Zeit in Altamont. Wir lesen uns durch triviales Familienleben und ein banales Abenteuer, bis Eugene endlich nach New York übersiedeln kann. Die nachvollziehbare Ambivalenz des provinziellen Südstaatlers gegenüber der Weltmetropole Nr. 1 nimmt viel Raum ein. Die starken Eindrücke erscheinen kaum verarbeitet, eher zu übertriebener Fundamentalkritik geronnen. Dabei gewinnt man nebenbei lohnende Einblicke, z.B. in ein Hotel für Dauergäste oder ein College für die ehrgeizigen Kinder der armen Eastside. Wolfe behandelt alle Darzustellenden nach dem Bostoner Muster. Obwohl er scharf beobachtet und genau hinhört, entstehen wieder nur Gruppenbilder voller Verachtung. Der Autor war selbst jahrelang Dozent an jenem Institut gewesen, dessen Studenten er uns jetzt mit mehr als nur einem Hauch von Antisemitismus - und Rassismus allgemein - vorführt. Er versucht es mit der Figur des jungen Juden Abe gutzumachen, doch auch diese positiv gemeinte Gestalt bleibt durch die Brille des Vorurteils gesehen.

Unser Held darf auch die Superreichen Amerikas kennenlernen. Wir begleiten ihn auf einem Wochenendausflug zu ihren Landsitzen im Hudsontal. Die Darstellung bleibt unentschieden zwischen Bewunderung und Verachtung, gibt statt einer Analyse dieser Welt eine Reflektion ambivalenter Gefühle in Eugene selbst.

Und dann Europa: England und Frankreich 1924/25. London spielt kaum eine Rolle. In Oxford, dessen Atmosphäre an sich gut getroffen ist, verfährt Wolfe wieder nach dem Bostoner Bausch-und-Bogen-Muster, etwa wenn er eine Gruppe amerikanischer Studenten darstellt. In Paris überfallen Eugene, wie schon in New York, Einsamkeit und Weltschmerz. Es folgen zwei längere Passagen, die den Leser mit ihrer zweifellos hohen Qualität überraschen. Zuerst fügt er ein - wohl redigiertes - Tagebuch aus jenen Monaten in Paris ein. Es zeichnet gerade das aus, was dem Roman sonst meist abgeht: die Verbindung von Kraft und Authentizität mit dem Blick fürs Wesentliche. Unmittelbar anschließend dann der Höhepunkt des Buches, die 150 Seiten lange Starwick-Episode. (Für Francis Starwick diente Wolfe der relativ erfolglose Dramatiker Kenneth Raisbeck als Modell, den er von Harvard kannte und dem er in Paris wieder begegnet war. Wolfe spielt im Roman auf dessen Ermordung 1931 an.) Das ist eine Novelle für sich, mit pikanter Konstellation: Für den Ästheten Starwick hatte eine Frau aus der Bostoner Oberschicht, Elinor, Mann und Kind verlassen und zu ihrer Gesellschaft die junge Ann, der gleichen Schicht zugehörig, mitgenommen. In Paris schließt sich Eugene ihnen an. Elinor ist die Anführerin der kleinen Truppe bei ihren Nächten zwischen Montmartre und Montparnasse. Beide Frauen vergöttern Starwick, der seinerseits nur hinter Männern her ist. Als Eugene sich für Ann erwärmt, diese aber immer noch Starwick den Vorzug gibt, eskaliert die Situation – die, wie fast alles bei Wolfe, einem real stattgefundenen Ablauf folgt. Hier erreicht er eine Dichte und Glaubwürdigkeit der Darstellung wie sonst nur bei den Familienszenen im Erstling.

Eugene reist in die Provinz, nimmt wider Willen die Rolle des Pseudografen in Kellers „Kleider machen Leute“ ein, er als falscher New York Times-Korrespondent, mit echter Gräfin und echter Marquise. Das könnte Stoff für ein Stück von Labiche sein, es ist amüsant, gut geschrieben, doch bleibt der innere Zusammenhang mit dem Roman fraglich. Marseille und Dijon sind weitere, wenig ergiebige Stationen. Wolfe versucht sich noch à la Proust, doch kaum überzeugend, in Theorien über die Zeit an sich und wird Europas endlich überdrüssig. Bei der Einschiffung der Passagiere gewahrt er wie ein magisches Bild die Gestalt seiner künftigen großen Liebe – Esther. Jetzt also zum Schluss noch ein Deus ex Machina, und der Leser klappt auf Seite 1197 das Buch zu: ein Monstrum von Roman! Er soll einem Programm folgen, das etwas so lautet: Begründung eines modernen Mythos à la Faust und seine Ausgestaltung in Form des Reifeprozesses eines jungen umherwandernden Amerikaners. Doch tatsächlich ist das Buch ein Dokument des Zufälligen, Unzusammenhängenden geworden.

Statt eines Schlussworts: Thomas Wolfe kommt demnächst ins Kino, gespielt von Michael Fassbender, Regie: Michael Grandage. Es soll um des Autors Beziehung zum Cheflektor Perkins vom Verlag Scribner gehen, wie Ende 2012 bekannt wurde. Drehbeginn: Anfang 2014.




Gast33 - 15.02.2014 um 23:44 Uhr

Mit dem Roman setzte Wolfe die in Schau heimwärts, Engel begonnene Geschichte des Eugene Gant fort, der nach seinem Abschluss an der Universität sein Drama-Studium aufnimmt. Nun beginnt für ihn eine rastlose Suche nach einer inneren Heimat.

Auf den angekündigten Film bin ich mal gespannt!
Gruß
Max




ArnoAbendschoen - 16.02.2014 um 09:29 Uhr

Ja, Max, auf den Film bin ich auch neugierig, zumal Th. Wolfe in den USA seit Jahrzehnten überwiegend recht kritisch beurteilt wird, sehr im Unterschied zu seiner Rezeption in Deutschland.

Je intensiver ich mich in jüngerer Zeit mit ihm beschäftigt habe, umso problematischer erschienen mir Werk wie Persönlichkeit.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön




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