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--- Das Telefonprinzip

Danni - 15.11.2001 um 21:01 Uhr

Das Telefonprinzip


Ich stand gerade vor dem Spiegel und kämmte mir die Haare, als das Telefon klingelte. Ich legte die Bürste zur Seite und machte mich auf den Weg, um dem aufdringlichen Läuten ein Ende zu bereiten. Eigentlich ahnte ich schon wer es war, und meine Schritte schienen automatisch langsamer zu werden. Ich spielte schon mit dem Gedanken einfach nicht abzuheben, als mir klar wurde, dass sie dann immer wieder versuchen würde mich anzurufen. Also entschloss ich mich seufzend mich der Situation zu stellen. Das Klingeln schien immer lauter zu werden, immer wütender, weil ich noch immer nicht am Apparat war. Nun stand ich direkt vor diesem nervtötenden Teil. Bevor ich den Hörer abnahm holte ich noch einmal tief Luft und zwang mich dazu diesmal einfach ruhig zu bleiben. Nur nicht wieder streiten.
„Ja?“ So meldete ich mich immer. Allein aus Prinzip nannte ich nie meinen Namen, wenn mich jemand anrief. Wozu auch? Wer mich anruft, weiß wer am anderen Ende der Leitung ist. Und wenn sich wirklich einmal jemand verwählt, was äußerst selten vorkommt, nun ja, dann kann man die Situation auch ganz schnell aufklären. Ich frage den Menschen einfach wen er sprechen möchte und wenn ich nicht der gewünschte Gesprächspartner bin, sage ich es einfach. Ohne große Umschweife, klipp und klar. Ich bin eben nicht eine von diesen Telefonsüchtigen, die stundenlang an der Strippe hängt. Für mich ist es nur ein Kommunikationsmittel für kurze Mitteilungen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber das verstehen die meisten nicht. Viele meiner Freunde und Verwandte beschweren sich regelmäßig bei mir, wie knapp ich doch immer angebunden wäre. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ich lieber längere Gespräche mit einem direkten Gegenüber führe. Ich möchte in ein Gesicht schauen und Reaktionen sehen. Augen, Mimik, und Gestik, da kann sich keiner verstellen. Keine rollenden Augen, weil ich es nicht sehe oder ein belustigendes Grinsen über eine Äußerung die ich sehr ernst meine. Nein, direkt und ehrlich, so liebe ich die Diskussionen, so streitet man sich oder lacht gemeinsam über lustige Geschichten und Anekdoten. So bin ich nun mal. Wer da anderer Meinung ist, gut, ich bin schließlich kein Missionar der Telefonitiskranke bekehren möchte. Sollen sie sich doch gegenseitig die Ohren heiß schwatzen, solange sie mich damit verschonen. Oder eine Selbsthilfegruppe gründen, wenn sie ihre Sucht nicht mehr unter Kontrolle haben. Kann ja auch belastend sein, immer an der Strippe hängen zu müssen und mit einer Plastikmuschel zu plaudern. Und wenn man dann irgendwann feststellt, dass man der Brötchengeber der Telefongesellschaft ist, sollte man sich ernsthaft Gedanken machen. Aber glücklicherweise betrifft das alles ja nicht mich. Also, was mach mir um andere Gedanken.
Nachdem ich mich also mit meinem allseits Ärger hervorrufenden „Ja“ gemeldet hatte, hörte ich als erstes ein tiefes Seufzen am anderen Ende. Schon jetzt wusste ich, was als erstes kommen würde. Irgendwas in der Richtung wie „Du klingst immer so unfreundlich und genervt, wenn du abhebst“. Das belustigt mich dann immer, denn wie soll ein einfaches und schlichtes „Ja“ denn klingen? Soll ich dieses kurze Wort denn langgezogen durch die Leitung flöten, womöglich noch ein Liedchen daraus machen? Das wäre ja noch schöner. Wie dem auch sei, ich hörte also dieses Seufzen und bereitete mich innerlich auf den bevorstehenden Streit mit meiner Mutter vor. Nicht das wir uns immer sofort in ein Streitgespräch begeben nachdem wir uns begrüßt haben, aber irgendwann kommen doch wieder die üblichen Meinungsverschiedenheiten auf. Der typische Generationenkonflikt eben. Manchmal passt ihr meine Frisur und meine Haarfarbe nicht, dann kommen Sätze von ihr wie: „Warst du endlich mal beim Friseur und hast dir einen vernünftigen Haarschnitt machen lassen?“ oder „Mit diesem Besenschopf wirst du nie eine anständigen Mann kennen lernen, dabei bist du eigentlich so ein hübsches Mädchen “. Die üblichen Dauerstreitigkeiten eben, eigentlich unwichtig und trotzdem genug Stoff damit einer von uns am Ende wütend den Telefonhörer auf die Gabel knallt. In der Beziehung sind wir uns nun mal zu ähnlich, beide Temperamentvoll und impulsiv. Wie die Mutter, so die Tochter. Natürlich können wir uns auch vertragen, und wenn wir auch oft streiten, genauso sehr lieben wir uns. Aber nicht am Telefon. Das ist schon sehr seltsam, aber dieses nervende Gerät beschwört bei uns jedes Mal eine missmutige Stimmung herauf. Wenn ich schon höre, dass es wieder schreit, ich solle mich zu ihm hinbegeben und gefälligst den Hörer abnehmen, dann bin ich, milde gesprochen, einfach nur gereizt.
„Hallo Liebling, wie geht es dir“, drang sanft vom anderen Ende an mein Ohr.
Wie lange diese Sanftheit wohl anhalten würde?
„Mir geht es gut, und dir?“. Der allgemeinübliche Austausch von Höflichkeit eben. Irgendwie sagt man immer, dass es einem gut ginge, egal ob es stimmt.
„Ich wollte nur mal hören, wie es bei dir aussieht, du meldest dich ja so selten“. Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. So fing das immer an. Aber heute wollte ich keinen Streit, also zwang ich mich zur Ruhe.
„Mama, ich wollte schon anrufen aber...“. Natürlich ließ sie mich nicht ausreden.
„Ja, das sagst du immer, aber in Wirklichkeit hast du deine Mutter vergessen und wenn ich nicht...“. Seufzen. Ein tiefes Seufzen. „Wann wirst du endlich erwachsen Kind und denkst auch mal an andere Menschen, außer nur an dich?“ Genau das war es, was mich wütend machte. Natürlich dachte ich an sie, ich schrieb ihr Briefe, zwar nicht jeden Tag, aber sie bekam sie regelmäßig. Ich besuchte sie auch gerne, aber 800 Kilometer waren kein Katzensprung. Mein Problem war einzig und allein, dass ich es hasste zu Telefonieren. Sie wollte es nur nicht begreifen, und das war ihr Problem.
„Mama, ich habe im Moment wenig Zeit....“. Stille. Schweigen. Dieses Schweigen kannte ich.
Beleidigt antwortete sie: „Natürlich, was sollte ich auch anderes erwarten wenn ich dich anrufe. Welche Ausrede hasst du dieses mal?“. Ich schloss meine Augen und zählte innerlich bis Zehn. Ich musste ruhig bleiben, denn ich wollte ihr gerne erzählen, weshalb ich keine Zeit hatte. Also, tief durchatmen und nicht aus dem Konzept bringen lassen. Noch hatte ich es niemanden erzählt, sie sollte die erste sein, die es erfährt. Ein bisschen aufgeregt sagte ich
ihr: „Ich habe gleich eine Verabredung, ich war gerade dabei meine Haare zu machen und ...“.
Wieder unterbrach sie mich mitten im Satz. „Eine Verabredung?“ Zweifel schwang in ihrer Stimme mit. Es war klar, dass diese Aussage sie noch nicht zufrieden stellte. Sie kannte mich zu gut, meine ständigen Ausreden hatten mich unglaubwürdig gemacht. „Ja, eine Verabredung, Date, Rendezvous wie auch immer man das nennt. Wir sehen uns heute das erste mal, und deshalb bin ich...“ Ich hielt schon automatisch mitten im Satz inne, ich wusste, sie würde mich genau an dieser Stelle unterbrechen. Wie erwartet, enttäuschte sie mich nicht.
„Ihr seht euch das erste mal? Wie soll ich denn das verstehen? Woher kennst du ihn denn?“. Ein Rückzieher war an dieser Stelle unmöglich. Ich hatte angefangen zu erzählen, nun musste ich es auch zuende bringen. Sie würde nicht begeistert sein, aber das hätte ich mir auch früher überlegen können. „Ich kenne ihn schon ein paar Monate, wir haben uns nur noch nicht persönlich kennen gelernt. Ich habe ihn im Internet kennen gelernt.“ Wiedereinmal trat eine ihrer typischen Pausen ein, die meine Nerven schon so oft auf die Probe gestellt hatten. Aber ihre Worte drangen schneller an mein Ohr als ich erwartet hatte. „Ich hoffe nur, du weißt worauf du dich da einlässt. Wer weiß, was sich hinter diesem Menschen verbirgt...“. Sie wollte natürlich noch wesentlich mehr sagen und mir war klar, dass es jetzt nur zwei Möglichkeiten für mich gab. Entweder ich stellte mich ihrem Dauermonolog über die Gefahren des Lebens, denen ich natürlich besonders ausgesetzt war, oder ich beendete dieses Gespräch ganz einfach kurz und schmerzlos. Da die zweite Lösung im Moment wesentlich effektiver und verlockender war, lag die Entscheidung also auf der Hand. Außerdem wurde die Zeit knapp, also antwortete ich schnell: „Ich pass schon auf mich auf. Du kennst mich doch.“ Diesmal kam ihre Antwort seltsam ruhig und eine wenig nachdenklich: „Ja, ich kenne dich, ich weiß, du wirst auf dich aufpassen. Aber eine Frage noch: Du hast eine außergewöhnliche Abneigung gegen das telefonieren und auf der anderen Seite sitzt du dann an deinem Computer und kommunizierst dort mit wildfremden Menschen. Findest du das nicht ein bisschen paradox?“ Schon wollte ich dem etwas entgegensetzen, da besann mich auf meinen Vorsatz, dieses mal nicht zu streiten. Also sagte ich nur noch, dass ich es eilig hätte und so endete unser Gespräch.
Nach einem raschen Blick auf die Uhr, stellte ich fest, dass fast keine Zeit mehr blieb, also schnappte ich meine Jacke und machte mich ein wenig aufgeregt auf den Weg.

Nervös lief ich auf und ab. In meiner Wohnung war es völlig still. Ich wagte es nicht, den Fernseher einzuschalten oder Musik aufzulegen, in der Angst, ich könnte es überhören. Das war doch zu lächerlich, jetzt, da ich sehnsüchtig darauf wartete, gab es nicht einmal den leisesten Ton von sich. Einzig das immer stärker erscheinende Ticken meiner Wanduhr durchbrach die Stille. Meine Augen blieben am Ziffernblatt hängen.
Gestern Abend um diese Zeit saßen wir gerade bei einem wundervollen Abendessen. Stundenlang haben wir geredet und gelacht, was nicht zuletzt
auch an etlichen Gläsern Wein lag, die im Laufe des Abends von uns geleert wurden. Es war wirklich perfekt. Alles stimmte. Vor allem stimmte alles an ihm.
Ein Geräusch riss mich aus meinem Tagtraum. Hatte es geläutet? Bewegungslos horchte ich in die Stille, bereit sofort aufzuspringen. Da war es wieder. Jemand hatte in der oberen Etage an der Tür geschellt. Dieses Haus ist wirklich hellhörig. Einen kurzen Augenblick stand ich noch unschlüssig herum, dann ging ich ins Bad. Ich musste mich einfach ein bisschen Frischmachen. Schaden kann es ja nicht. Wer weiß.
Ich stand vor dem Spiegel und kämmte mir die Haare, als das Telefon klingelte. Die Bürste flog in die nächstbeste Ecke und auf den Weg zum Telefon nahm ich anscheinend alle erdenklichen Ecken und Kanten mit, die sich in meiner Wohnung befinden. Atemlos riss ich den Hörer ab. Als ich seine Stimme am anderen Ende hörte, sagte ich nur: „Schön dich zu hören.“
Drei Stunden später lag ich lächelnd vor mich hinträumend in meinem Bett und war einfach nur dankbar, dass jemand das Telefon erfunden hat.





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"Ein Buch ist die Axt für das gefrorene Meer in uns."
(Franz Kafka)




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