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-- Prosa
--- 13. Gudrun (Aus Lange Haare)
raimund-fellner - 08.06.2012 um 08:18 Uhr
13. Gudrun
Er stellte zu hohe ethische Ansprüche an die Menschen. Darum genügte ihm niemand als Freund. So war er einsam. Es wäre richtig gewesen, die hohen ethischen Ansprüche nur an sich zu stellen und zu versuchen, sie zu erfüllen. Den Mitmenschen aber die Schwächen nachzusehen, denn Weisheit besteht auch darin, zu wissen, was man an der Wirklichkeit übersehen muss, wenn man glücklich sein will. So hätte er es den anderen nachsehen sollen, dass sie den Zwängen bezüglich ihrer Haar- und Barttracht nachgaben, auch wenn sie dies nicht zugaben, was wiederum eine Schwäche war.
Gerade auch bei den Frauen beobachtete er Zwänge, denen die meisten feige nachgaben. Er bangte dabei immer wieder um Bea. Wie würde sie sich den Zwängen gegenüber verhalten? Würde sie sich immer für die Freiheit entscheiden? Er hoffte auf ihren Mut und meinte, wenn nur er darin alles richtig machte, so durfte er hoffen, dass auch Bea nicht der Feigheit nachgab. Dieses Bangen war ein stilles Gebet an Gott, der über die Ferne das Richtige bewirken mochte. Jedes Eingeschränkte der freien Erscheinung bei anderen Frauen schmerzte Raimund, weil er an Bea denken musste, auf die ähnliche Zwangskräfte wirken mochten, unter denen Bea zu leiden hatte. Auch sie hatte den Kampf um die Freiheit zu bestehen. Würde sie unterliegen? Würde dadurch ihre Schönheit Einbußen erleiden? Er begleitete ihren Lebenskampf um das Gute und die Freiheit anhand der anderen Frauen über die Ferne. Was ihn noch mehr ängstete, war die Furcht, Bea könne die Zwänge verinnerlichen (internalisieren) und sich mit ihnen identifizieren, dass die Zwangsinhalte zu ihrer Persönlichkeit würden, so dass aus ihr eine "Umgedrehte" würde, so wie Bettina, die Bankkreditvermittlerin. So litt er inwendig um Bea, mit der er nicht sprechen konnte, um sie zu bestärken auf dem guten freiheitlichen Weg. Denn eine Entscheidung für die Unfreiheit war eine Entscheidung wider die freie Liebe, welche die wahre Verwirklichung der beiden war.
Da war Evelyne, seine ehemalige Leidenschaft. Sie war nicht seine wahre Liebe. In seinem törichten Wahn hatte er sie anstelle seiner echten und wahren Liebe gesetzt. Diese Leidenschaft zu Evelyne war abgebrannt wie ein Strohfeuer. Jetzt war das jähe Feuer erloschen, denn er machte sich keinerlei Illusionen mehr, was Evelynes Freiheitlichkeit betraf. Sie würde auch weiterhin ihre ehemals langen Haare stutzen und die Freiheit ohne spießigen Büstenhalter würde sie auch nicht leben. Sie ging den Weg der meisten Frauen. Über diese Zwänge, die auf sie wirken mochten, schrieb Evelyne freilich nichts in ihren nunmehr nur noch oberflächlichen Briefen. Wie die meisten Mitmenschen schwieg sie sich darüber aus. Es war ja auch zu peinlich über die eigene Feigheit gegenüber den Zwängen sprechen zu müssen. Der bleibende Reiz an ihr war, dass sie Einblick in französische Kultur und Sprache brachte. So war er, seit er Evelyne kannte, angeregt, sich mit der französischen Sprache auf eine ihm eigene Methode zu beschäftigen. Übungsbücher machte er kaum durch, sondern las ausdauernd französische Literatur, obgleich er zunächst das Wenigste verstand. Wie die Wörter ausgesprochen wurden, das wusste er nur teilweise, darum beschloss er bei der Volkshochschule einen Französischkurs zu belegen. So war er, von Evelyne durch Briefe angeregt, eifrig dabei, sich die französische Sprache anzueignen, denn in der Schule hatte er statt dessen nur Altgriechisch gelernt.
Bei diesem Französischkurs wurde er auf Gudrun aufmerksam. Sie trug keinen Büstenhalter, wie ein unauffälliges tasten seiner Augen ausfindig machen konnte. Das machte ihn freudig. Ihre Grundeinstellung war also eher dem Freiheitlichen zugeneigt und ließ sich nicht in weiblicher Zwangseitelkeit knechten. Diese Folgerungen legten sich Raimund nahe. Worin sich etwas weniger Freiheitlichkeit andeutete, war ihre Haartracht. Zwar fiel das lange Haar ungebunden nach hinten, war aber rechts und links seitlich von je einer Spange gehalten. Also gänzlich frei war Gudrun nicht, schloss Raimund. Von diesen Beeinträchtigungen des Freiheitsgedankens in Gudruns Persönlichkeit konnte er absehen, wenn es darum ging, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ihm war klar, würde er in Gänze seine freiheitlichen Ansprüche an seine Mitmenschen stellen, so bliebe kaum jemand übrig, der genügen konnte.
So kam er denn in den Pausen ins Gespräch mit Gudrun. Behutsam teilten sie sich ihre Lebensumstände mit, wobei Raimund ganz offen über seine psychiatrischen Erlebnisse sprach. Von Gudrun wurden seine Mitteilungen, ohne geheucheltes Scheinverständnis aufgenommen. Sie lehnte ihn nicht ab und hatte auch keine Vorbehalte. Auch seine beruflichen Aussichten, einmal Geld zu verdienen, um Kinder hochpäppeln zu können, waren ihr gleichgültig, denn Gudrun war das Kind einer sehr frühzeitigen Mutter, die ihr eher abriet, Kinder zu bekommen. Zwar sprachen Raimund und Gudrun nicht ausdrücklich darüber, doch war klar, dass Gudrun eher keine eigenen Kinder wollte. Von daher musste sie nicht, wie die anderen berechnenden Frauen nach jemandem Ausschau halten, der eine Familie ernähren konnte. Raimund wollte nie eigene Kinder, brauchte auch keine, weil er seine Kindheit und Jugend nicht verdrängte, sondern stets gegenwärtig hielt, obgleich ihn so manche Verfehlung schmerzte. So verfügte er über seine eigene Kindheit und Jugend im Bewusstsein und brauchte diese nicht mit eigenen Kindern erneut zu erleben.
Gudrun war träumerisch im Kleinen, so sprach sie einmal von ihrer kleinen Welt, womit sich Raimund nicht begnügen konnte. Sie war Sekretärin in einer Staatsvermögensbehörde und trennte scharf zwischen Arbeit und Freizeit. Da war die scheinbar notwendige Erwerbsarbeit, von der sie kaum sprach. Diese Erwerbsarbeitswelt war in der Freizeit verdrängt. Denn in der Freizeit ließ sich Gudrun von Menschen wie Raimund begeisten und ihr Vorstellungsvermögen anregen. Davon durfte freilich nichts in ihre spießige Erwerbsarbeitswelt kommen. So führte sie gleichsam ein Doppelleben.
Anders Raimund, ihm war dieses Doppelleben von Erwerbsarbeit und Freizeit, ein fauler Kompromiss; dieses Doppelleben, das zerfiel einerseits in die kleine angenehme Welt der Freizeit mit ihren kleinen Freiheiten und andrerseits in das Leben der spießigen Erwerbsarbeitswelt mit ihren Zwängen, die Gudrun so unbewusst wie möglich hinter sich brachte. Für Raimund gab es nur eine große Welt. Eine säuberliche Trennung der beiden Sphären, Arbeit und Freizeit, lehnte er ab. Das führte nur zu unfreien Zwängen, die sich auch auf die Freizeit auswirkten. Seine Vorstellung von einem einheitlichen Leben war freilich schwerer zu verwirklichen, denn es bedurfte dazu einer ungeheuren geistigen Anstrengung. Raimund wollte sich selbst treu bleiben mit seinen langen Haaren, denn damit blieb er Bea und seiner Jugend treu. Doch wie war solches Vorhaben zu verwirklichen? Nur Philosophie, die Bemühung um Weisheit konnte darauf Antwort geben. Er als Philosoph arbeitete vierundzwanzig Stunden, weil er unentwegt dachte. Für ihn gab es nur Muße und seine Arbeit war die Kunst des Müßigganges, die er noch nicht so recht beherrschte, weil er die meiste Zeit unglücklich war, anstatt vergnüglich seine Muße genießen zu können. So war er im Lernen begriffen, um einst ein vergnügliches und glückliches Leben führen zu können.
Es blieb nicht aus, dass Raimund und Gudrun nach einigen Malen zusammen nach dem Französischkurs noch in ein Café gingen, um sich weiter gedanklich auszutauschen. Gudrun gab darum ihrer Mutter telefonisch Bescheid, dass sie später nach Hause käme. Obgleich sie schon volljährig war, fühlte sie sich anscheinend genötigt, die Mutter zu verständigen. Diese seelische Abhängigkeit von ihrer Mutter störte Raimund. Gudrun war, wie schon zu vermuten war, nicht gänzlich frei. Auch wenn sie finanziell unabhängig von ihrer Mutter sein mochte, war sie ihr seelisch ergeben. Ihre finanzielle Unabhängigkeit von der Mutter bedingte Abhängigkeit von ihrem spießigen Arbeitgeber. Ihre Kleidung war zwar so freiheitlich gewählt, wie ihre berufliche Zwangswelt nur zuließ; war aber nicht gänzlich frei. Gudrun achtete peinlich genau, auch im Folgenden, nicht über die Stränge zu schlagen. Ein gewisses kleinbürgerliches Normenkorsett war ihr internalisiert.
Lieben, wie er Bea liebte, konnte er Gudrun darum freilich nicht, weil Gudruns Zwänge auch ihn unfrei machen würden. Gudrun träumte in ihrer kleinen Welt, ihrer Freizeitwelt, aber von der großen Freiheit des gesamten Lebens schrak sie furchtsam zurück. Mit Gudrun hätte er sich also nicht verwirklichen können. Darum blieb ihre Freundschaft beim Gespräch, wenn man von einer einzigen Ausnahme absieht, worüber noch zu berichten sein wird. Raimund war froh um dieses weibliche Wesen, das sich mit ihm, dem Einsamen, abgab. Sie mochte ihn, schätzte Raimunds kompromisslose Freiheitlichkeit als Ausgleich für ihr eingezwängtes Sekretärinnenleben. Raimunds Gedanken waren für Gudrun noch nie gehört. Ihr war es gänzlich neu, so denken zu können. Für sie war das spannend und interessant. Eine andere gesamtheitliche Welt. - Seine Zeche im Café zahlte jeder selbst, denn Raimund erkaufte sich nicht die Gunst von Gudrun, wie er das niemals bei weiblichen Wesen tat.
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