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-- Politik & Gesellschaft
--- Die toten Akten

ArnoAbendschoen - 09.12.2011 um 11:26 Uhr

Diese Geschichte hat sich vor einigen Jahren in der Südhälfte unseres schönen … äh … Vaterlandes zugetragen.

Dort gibt es die kleine Großstadt X, die zugleich Landeshauptstadt von Y ist. Einige Zeit davor war die Stadt durch Eingemeindung des Dorfes Z in den Besitz von dessen bisherigem Rathaus gekommen. Was tun mit einem alten Dorfrathaus, das man eigentlich nicht braucht? Wie das Verwaltungsleben so spielt – es gab zur gleichen Zeit noch ein Zuviel, und zwar an Personal. Das alte Rathaus und der Personalüberhang ergänzten sich ideal, fand die Stadtspitze und bot beides dem Land an: Habt ihr keine Verwendung?

Sie hatten. Da gab es noch eine lästige Aufgabe aus der Nachkriegszeit, eine Kriegsfolgenabwicklung mit stark abnehmender Tendenz. Eine eigene Landesbehörde lohnte sich kaum noch. Die Stadt mutierte daher zur Leiharbeitsfirma und das Land leaste Dorfrathaus und städtische Angestellte. Für jeden statistisch erfassten Fall erhielt die Stadt einen Pauschalbetrag. Sie kümmerte sich weiter um Heizung und Beleuchtung und überwies die Gehälter wie bisher.

Jahrelang lief alles wie geschmiert im Dorfrathaus. Den Gesetzen wurde Genüge getan, die Aufgaben wurden treu erfüllt. Nur dass die Fallzahlen stetig zurückgingen, bereitete dort allmählich Sorgen. Ohne Fälle keine Pauschale. Weitreichende Konsequenzen drohten. Die geleasten Angestellten kamen allein, ohne ihre Stadtspitze, auf die rettende Idee: Sie recycelten die Altfälle und legten sie als neue Akten noch einmal an. Sie zählten dann in der Statistik erneut mit und sorgten dafür, dass die Pauschale insgesamt nicht schwindsüchtig wurde. Und es machte nicht einmal viel Arbeit. Denn:

Wilhelm Schulz, geboren 1901 in Breslau, war schon lange tot.* - Und:

Wilhelmine Becker, geboren 1902 in Stettin, war als Demenzkranke in einem Pflegeheim untergebracht und hatte keinen Gedanken mehr an ihren längst beschiedenen Antrag vom 11.11.1979.* - Ferner:

Josef Prochaska, geboren 1915 in Oppeln, war schon seit zwanzig Jahren verschollen.*

Keiner von ihnen machte Ärger. Das Geld floss noch einige Jahre. Dann kam das Land doch hinter den Schwindel. Der Schaden ging schon in die Hunderttausende.

Die Angestellten sagten zutreffend, das Geld sei nicht ihnen, sondern der Stadtkasse zugute gekommen. Die Stadt rechtfertigte sich schlitzohrig, sie habe nur die personelle, nicht jedoch die fachliche Aufsicht geführt. Ein Rechtsstreit zwischen zwei staatlichen Ebenen bahnte sich an. War es überhaupt Betrug im juristischen Sinne? Oder ist es eher ein Thema für ein Seminar über Verwaltungsrecht: Kann eine Hand von Papa Staat die andere tatsächlich – bestehlen?

Hören Sie das ferne Gelächter, wie aus einem Grab? Das ist Gogol. Er meint: Zustände sind das jetzt bei euch wie früher bei uns im alten Russland, wie unter Väterchen Zar.

* Namen und Daten fiktiv




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