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-- Prosa
--- Lauter Idioten
ArnoAbendschoen - 19.11.2011 um 10:47 Uhr
„Wir sind doch von Idioten umgeben!“ – Wer hatte das oft gesagt? Ein früherer Kollege von mir, längst im Ruhestand, und gemeint waren damals andere liebe Kollegen, die er als Gschaftlhuber-Bürokraten einschätzte. Möge es ihm gut gehen.
In Berlin stieg ich einmal in die falsche Straßenbahn. Ich bemerkte es und blieb träge sitzen: Vielleicht lohnte sich die Fahrt ja doch. Nach dem letzten Plattenbauviertel kam ein vernachlässigter alter Dorfkern – Endstation. Ich verließ mit den verbliebenen Fahrgästen die Bahn, wir zerstreuten uns rasch. Da trat eine Frau auf mich zu und begann mir gleich Fragen zu stellen: „Wie heißt du denn? Und woher kommst du denn?“ So in Berlin angesprochen zu werden, noch dazu von einer Wildfremden, kann einen stutzig werden lassen. Ich war also baff. Sie war nicht mehr jung, der Haut und den Haaren nach um die fünfzig, doch im Ausdruck kindlich geblieben. Ich antwortete: „Das möchte ich dir jetzt nicht sagen.“ – „So, das willste also nich?“ Sie überlegte, ob sie schmollen sollte oder auf andere Weise reagieren könnte. Plötzlich lief sie fort, einem anderen Ausgestiegenen hinterher, und ich hörte noch: „Wie heißt du denn? Und woher kommst du denn?“
Einmal im Gebirge, da war eine kleine Stadt, eine sehr kleine Stadt. Als ich an einem Dönerladen vorbeiging – so etwas gab es auch dort schon -, wurde ich von einem jungen Mann um die zwanzig freundlich gegrüßt, vielleicht sollte ich schreiben: begrüßt. Er tat es mit Nachdruck, mit Würde. War es vielleicht der Sohn des Inhabers, einen Kunden in spe in mir vermutend? Doch nein, er ging dann wie ich in Richtung Omnibusbahnhof und überholte mich unterwegs. Da kamen uns Schulkinder entgegen, alles Grundschüler. Sie umringten ihn, riefen ihm wiederholt etwas zu, das ich nicht verstand, ein Schlüsselwort in ihrer Sprache offenbar. Und er wiederholte es, immer wieder, und bog sich dabei und machte sich kleiner und lachte gezwungen und schien sich zugleich über sich selbst und die Situation zu ärgern. Kurz: Er machte sich zum Affen und litt darunter. Es lief wie ein lange eingeübtes Ritual ab.
Am Busbahnhof beobachtete ich ihn weiter. Er wartete auf keinen Bus. Er hielt Ausschau nach Bekannten und wenn er einen gefunden hatte, sprach er lange mit ihm und machte eine höchst sachverständige Miene dabei. Später stellte er sich neben mich, musterte mich von der Seite und wartete, wartete … Ich schwieg verlegen, wie aus Zwang, und begann mich meinerseits zu ärgern, über mich oder die Situation.
Einige Tage später sah ich ihn aus einem fahrenden Bus heraus noch einmal. Es war sehr heiß, fast so heiß wie im Fegefeuer. Er ging barhäuptig neben der Landstraße dahin, auf einer Anhöhe über der kleinen Stadt, erkennbar ohne Ziel. Er sah sich fortwährend um, alles ihm Begegnende mit großem Ernst und großer Anstrengung in sich aufnehmend und darüber sinnend. Er schien mir in einer Welt zu leben, in der nichts ohne tiefere Bedeutung ist.
In Lars von Triers Film „Idioten“ konfrontiert und schockiert eine Gruppe junger Menschen ihre Umwelt mit gespielt idiotischem Verhalten. Ihre Überzeugung dahinter: „Ein Idiot zu sein, ist ein Luxus und ein Fortschritt. Ein Idiot ist ein Mensch der Zukunft.“
Lasst uns alle Idioten sein.
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