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-- Prosa
--- Szenen im Wartezimmer

ArnoAbendschoen - 07.07.2011 um 13:42 Uhr

In der großen Augenarztpraxis gibt es eine Reihe von Warteräumen. Selbst die schmalen Gänge sind bestuhlt, und dennoch werden die Sitzplätze oft knapp. Von weither kommen die Patienten, um sich untersuchen, behandeln und operieren zu lassen. Das Gedränge in den Durchgängen und vor den beiden Tresen erinnert an die Versorgung von Menschenmassen in einem Krisengebiet der Dritten Welt. Dabei ist es nicht einfach, überhaupt einen Termin zu bekommen. An einem Vormittag finden dreißig Operationen statt.

Die Sprechstundenhelferinnen – ihre Zahl ist gewiss zweistellig – arbeiten sehr angespannt. Ab und zu eilt eine von ihnen durch die Wartezimmer und ruft die Namen von Patienten aus. Hat sie wieder einen gefunden, malt sie ihm mit Tintenstift ein Kreuz neben das kranke Auge. So ähnlich markiert man Schafe vor der Schur oder Bäume vor der Fällung. Manchmal träufelt die Helferin einem Kranken Tropfen in ein Auge. „Halt, nicht dieses“, wehrt ein Patient ab, „das ist doch mein Glasauge. Das andere bitte.“ Nachher lacht er: „Darauf fallen sie oft herein.“

Ein Stuhl wird stets frei gehalten. Er steht vor dem Eingang zum Operationstrakt, auf ihm ruhen sich die eben Operierten kurze Zeit aus, wenn sie herausgeführt werden. Im Zehn-Minuten-Takt kommen sie zurück, mit grünem Umhang, Operationshaube und Stoffüberschuhen. Rasch tritt der Angehörige, der sie in die Praxis begleitet hat und bald darauf wegbringen wird, zum Patienten oder der Patientin. Die ersten Worte nach der Operation werden gewechselt. In diesem Augenblick wird ein Stück Innenleben sichtbar, der Grad an Zuwendung wird ablesbar. Eine Helferin nimmt Umhang, Haube und Überschuhe fort.

Auf einmal wird es noch enger. Ein Krankentransport schafft sich Raum. Sie bringen im Rollstuhl eine Greisin, ihr Gatte geht nebenher. Die kleine alte Frau ist derart in sich zusammengesunken, dass sie nur noch Kindergröße hat. Sie ist still, fast apathisch. Ihr Mann dagegen wirkt sehr gesund, er ist drahtig und behände. „Für den Rollstuhl ist hier aber kein Platz“, stellt eine Sprechstundenhelferin klar. Der kurzgeschorene, stiernackige Krankentransportmann sagt: „Sie kann auf normalem Stuhl sitzen, sie hat einen Rollator, ich bring ihn her.“ Dann trägt er den Rollstuhl zwischen den zurückweichenden Menschen hinaus. Die Greisin sitzt auf einem Stuhl zwischen anderen wartenden Patienten, ihr Mann steht neben ihr oder geht ein wenig vor ihr auf und ab.

Die beiden sind um die achtzig und gehören offenbar einem gut situierten hanseatischen Bürgertum an. Sie sind sehr sorgfältig gekleidet, doch ohne Extravaganz. In ihrer Schicht ist es sonst nicht üblich, in der Öffentlichkeit durch auffälliges Benehmen auf sich aufmerksam zu machen. Doch die bisherigen Alltagsgesetze gelten für sie jetzt nicht mehr. Die Frau ist ängstlich, verwirrt, sie stößt kleine, besorgte Klagelaute aus. Und er, der solide, zurückhaltende hanseatische Gatte, tut, was er sonst peinlich vermeidet: Er agiert vor fremden Menschen wie auf einer Bühne, spricht laut und überdeutlich, unterstreicht mit vielen Gesten, was er ihr Beruhigendes sagt: „Nein, ich gehe doch nicht fort. Ich bleibe hier bei dir, bis du fertig bist. Ganz bestimmt bleibe ich in deiner Nähe.“ Und um sie noch mehr zu besänftigen, fügt er hinzu: „Du warst doch schon mal hier, erinnerst du dich nicht? Alles ging so schnell, war so schnell vorbei – da hast du gesagt: Machen wir es bald auch auf der anderen Seite …“ Sie scheint sich nicht zu erinnern.

Immer wieder gehen alte Menschen unsicher, ängstlich in den Operationsraum hinein und kommen ein wenig erleichtert und von fremder Hand gestützt später wieder heraus, einen ganzen Vormittag lang.




raimund-fellner - 24.01.2013 um 20:05 Uhr

Lieber Arno,

was Arztbesuche (Psychiater) betrifft, habe auch ich in "Lange Haare" mich schon geäußert unter dem Thema "Die Normopathie". Das Kapitel werde ich vielleicht in geraumer Zeit ins Forum stellen.

Jedenfalls handelt es sich bei Dir ja um einen "salonfähigen" Arztbesuch im Gegensatz zu einem Arztbesuch bei einem Psychiater, was heißt, man kann darüber im "Salon" reden und braucht den Besuch nicht peinlich zu verschweigen.

In diesem Sinne

Raimund Fellner
www.raimund-fellner.de




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