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-- Prosa
--- Fliegen...
Pedro - 03.07.2011 um 14:13 Uhr
Fliegen müsste man können, wegfliegen, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.
Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute. Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter. Gedränge, Schüler überholen mich. Eine Kollegin fragt, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde. Ich habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.
Im Urlaub waren meine Frau und ich in unserem Ferienhaus am Meer. Lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche erwischte mich dann eine Grippe, Hals- und Kopfschmerzen. Joggen konnte ich auch nicht mehr.
Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute. Alle glauben, dass wir vom Sozialamt ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschin; er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen. Nun liegt er auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe. Ich schaue ihn an. Er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt und müde. Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand.
Früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.
Nach der zweiten Unterrichtsstunde gehe ich zum Arzt. Die Schmerzen den Beinen sind stärker geworden. Ich konnte nachts nur wenig schlafen. Fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder? Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte ihren Beruf nicht aufgeben. So ist uns die Zeit davon gelaufen.
Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich besorgt an. Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche soll ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.
Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.
Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute joggen gehen. Unser Haus liegt direkt am Wald.
Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen. Ich ziehe mein Sportzeug an und verlasse das Haus.
Ich fange am Waldrand an zu laufen und falle hin. Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in den Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle. Gehen kann ich fast nicht mehr, die Beine knicken weg.
Im Keller haben wir ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen. Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ich werde ihr erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.
Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei. Er fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig. Krücken stehen neben ihm.
Ich sitze am Fenster und schaue auf die Straße. Leute hasten vorüber. Die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit einem Gehwagen die Straße entlang. Über achtzig ist sie schon. Kinder rennen vorbei, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster. Ich werde wohl im nächsten Frühjahr keine Bäume mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt sich am Boden umher, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir. Vielleicht rieche ich anders.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt. Duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus und für die Schule, Schlafen. Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf. Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt. Da sitzt ein Krüppel am Fenster und schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.
Ich sehe ihn am Fenster sitzen, er sieht nachdenklich hinaus, irgendwie unbeteiligt. Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.
Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien. Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung. Deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.
Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich eine Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems hätte.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien. Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich.
Ich höre nicht mehr weiter zu, stehe auf, nehme meine Krücken und verlasse die Praxis. Mit einem Taxi fahre ich nach Hause.
Wenn ich meinen Mann ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit. Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf Rainer zukommt und auch auf mich.
Bisher habe ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich wenig helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.
Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch tun wollte.
Ich kann nur noch mühsam laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt. Ich kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.
Besuch kommt selten. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mich anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, und oft nicht verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.
Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen. Ich habe einen Rollstuhl besorgt, kann nun mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus und kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.
Spazieren werde ich jetzt gefahren, in einem Rollstuhl, wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an. Sie sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen, meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein; fühle fast nur noch wie ein Tier.
Es geht ihm schlechter, er hat Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr erkennt. Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.
Es ist kalt, früh am Morgen, wir verlassen unser Ferienhaus am Meer. Ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen. Hören kann er sie vielleicht.
Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt. Sie schweben über das Wasser, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ella kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr; dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich hilflos in Einsamkeit versinke.
Ich schaue ihn an, knie vor ihm, umfasse seine Beine. Ich sehe, wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht und schiebe ihn an den Rand des Felsens.
Ich kann fliegen...
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