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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Das Rätsel Robert Walser
ArnoAbendschoen - 23.05.2011 um 17:08 Uhr
Robert Walser gehört zu den am besten erforschten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Figur übt einen starken, eigentümlichen Reiz auf die Nachwelt aus und er hinterließ viel biographisches Material. Als Autor war er zu Lebzeiten relativ erfolglos und kam erst ab den Siebzigern in Mode. Seine Werke haben seitdem auch Filmregisseure zu eigenen Arbeiten herausgefordert.
Für die weniger Kundigen sein Leben in Stichworten: Geboren 1878 in Biel, Schweiz. Nach der Schule mehrjährige Odyssee durch die Welt der kaufmännischen Angestellten. Ab 1905 als freier Schriftsteller in Berlin. Dort u.a. drei kleine Romane, die in Fachkreisen Anerkennung fanden, doch vom breiten Publikum nicht entdeckt wurden. 1913 Rückkehr in die Schweiz. In ärmlichen Verhältnissen erst in Biel, später in Bern. Lebte vom Verfassen kurzer Prosatexte für Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1929 dauernd in psychiatrischen Anstalten untergebracht. Seine Internierung gilt heute als medizinisch unbegründet. Gestorben 1956.
Kaum erforscht ist meines Wissens Walsers Sexualleben. Keine Sorge, ich will hier nicht die Schlafzimmergeheimnisse eines seit fünfzig Jahren toten Schriftstellers lüften. Da gibt es wahrscheinlich nichts zu lüften, und genau das ist das Bemerkenswerte und kann einen weiteren Zugang zu seinem Werk eröffnen. Er selbst hat sich während seiner Unterbringung gegenüber einem Arzt dazu so geäußert: Er habe zeitlebens nie sexuellen Kontakt zu irgendeinem Menschen gehabt, weder zu Frauen noch zu Männern.
Dabei gibt es durchaus Frauen in seinem Leben. Zunächst die Lieblingsschwester Lisa. Wir haben zahllose Zeugnisse der Zuneigung. Und seine Schwester berichtet einmal von anstößigem, obszönem Verhalten des Bruders. War Walser inzestuös veranlagt? Dafür finde ich keinen eindeutigen Beleg. Dann Frieda Mermet, Leiterin einer Anstaltswäscherei. Er war mit ihr jahrelang befreundet, bevor er selbst Insasse wurde. Frieda Mermet sagte von ihm, er benötige keine Frau. Ihre Rolle war eher mütterlich. Schließlich die mysteriöse Edith, der wir in den Schriften aus seiner späten Berner Zeit so oft begegnen. Wer war sie? Vielleicht eine Saaltochter in einem Lokal, in dem er seinen zeitweise beträchtlichen Weinkonsum betrieb. Ihr gegenüber schlüpfte er schreibend gern in die Rolle von Sacher-Masoch. Oder war sie nur Fiktion, ohne reales Vorbild? Aus seiner Biographie kennen wir keine pikanten Details.
Kann man ausschließen, dass Walser vielleicht insgeheim homosexuell war? Ja, es scheint mir so. Wir finden bei ihm nur eine Textstelle dazu und zwar in seinem frühen stark autobiographischen Roman „Geschwister Tanner“. Der Held Simon ist eine Zeitlang ganz ehrbar mit einem Krankenpfleger befreundet. Als dieser ihn küsst, genießt Simon es spontan und betrachtet gleich hinterher die Szene mit den missbilligenden Augen der Außenwelt. Er entzieht sich weiterer Annäherung. Dies ist nur scheinbar brav, angepasst und konventionell.
Die gerade erwähnte Stelle hat jenseits des Sexuellen viele Parallelen in Walsers Leben und Werk. Immer wieder finden wir Situationen, in denen Verlockung in Bedrohung umschlägt. Und immer wieder ordnet er sich Autoritäten unter, um sich bald danach ironisch von ihnen zu distanzieren. Das begann schon mit seinem Zug durch die Büros, Banken und Schreibstuben der Jahrhundertwende. Sich an verhasster Arbeit abzuarbeiten, sich dem Widerwillen freudig hinzugeben und sich irgendwann lachend davonzumachen – das ist ein Grundmuster seines Verhaltens. Er trieb es einmal auf die Spitze. Er hatte schon etwas publiziert, da trat er unter falschem Namen in eine oberschlesische Dienerschule ein und übte die Tätigkeit eines Kammerdieners danach tatsächlich auf einem feudalen Schloss einige Monate aus. Nicht um später à la Wallraff darüber zu schreiben. Er schrieb „Jakob von Gunten“, sein wunderlichstes Buch, Poesie des Ausgeliefertseins, der Unterdrückung und Herabwürdigung – und des Genusses daran.
War Walser masochistisch? Vielleicht. Und in diesem Fall ein Masochist als Platoniker.
Einer sagte mal, die Schweizer seien ein Volk von gesitteten Mäusen. Walser ist die Maus, die sich in die Katze verguckt und dann über sie lacht.
Hermeneutiker - 23.05.2011 um 22:20 Uhr
Das alles ist interessant. Die Frage ist nur, warum daraus - neben der literarischen Qualität - der "starke eigentümliche Reiz" ensteht. Ich denke, das hat vielleicht etwas mit der impliziten Kinderperspektive Walsers zu tun, die er dann freilich mitunter transzendiert. Am "Gehilfen" beeindruckte mich seine Sensibilität für die unterschiedliche Behandlung der Kinder und auch die Ambivalenz der weiblichen Figur. Vielleicht ist es dieser Blick auf das, was sich jenseits des Patriarchalischen befindet, (oder unter diesem), der ihn so modern macht. Dazu gehört übrigens bei Walser auch die Natur. Ein bisschen wie Kinderliteratur für Erwachsene.
ArnoAbendschoen - 23.05.2011 um 23:02 Uhr
Danke, Hermeneutiker, für Ihre ergänzenden Hinweise. Walsers Wirkung und ihre Ursachen, das hat viele Facetten. Mein Text beschränkt sich im Wesentlichen darauf, einen einzelnen auffallenden Charakterzug des Schriftstellers herauszuarbeiten.
"Kinderperspektive" und "Ambivalenz der weiblichen Figur", das ist vollkommen zutreffend. Allerdings scheint mir, gerade diese Ambivalenz findet man fast durchgehend bei ihm. Was eine etwaige Distanz zum Patriarchalischen angeht - das ist eine schwierige Frage, die eine eigene Untersuchung verdiente.
Von seinen Romanen hat mich "Der Gehülfe" am meisten beeindruckt, und zwar - neben den von Ihnen erwähnten Aspekten - vor allem die ironische Angestelltenperspektive auf den unaufhaltsam dem Untergang entgegentreibenden Patron. Tobler verkörpert das Schwindelhafte der Ökonomie seiner Zeit. Da drängen sich Parallelen zu unserer Gegenwart auf ...
Arno Abendschön
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