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vimana - 23.02.2011 um 15:11 Uhr

Atemkünstler

Obwohl Friedhofsgärtner Johannes in ein fortgeschrittenes Alter geraten war, war er immer noch der Hansi bei allen, die ihn kannten. Hansi hatte es mit der Luft. Schon als Kleinkind brauchte er besondere Fläschen und Sprays. In der Schulzeit hatte man ihn zweimal zur Luftkur verschickt. Einmal über tausend Meter hoch in die Alpen. Ein anderes Mal auf ein flaches Inselchen in der Nordsee.
Johannes war sein Leben lang der Hansi geblieben. Und das mit einem n. Auch jetzt noch kurz vor der Rente. Weil damals eben mickrig und schwach auf der Brust.
Dabei war Johannes immer übermäßig über seine Gesundheit besorgt. Und dafür hatte es keinen dreimal klugen Fernsehberichts bedurft. Schon gar nicht der Belehrung, dass gesunde Luft ein hohes Gut bedeutet.

Johannes wusste Bescheid. Schließlich arbeitete er tagein tagaus in und über Gräbern in freier Luft. Und dass die Menschen bei jedem Atemzug Schadstoffe aufnehmen und obendrein falsch atmen, war ihm sattsam bekannt.
Bei jedem Luftholen strömen also Giftstoffe ein. Eine unvorstellbare, entsetzliche, ja tödliche Menge gerechnet auf die Lebensjahre. Und die Verwschmutzungen nehmen eher zu.
Die meisten Menschen sind sich dieser Gefahr nicht bewusst und machen vieles falsch. Natürlich ist auch die tägliche Fresserei ungesund. Aber Hungerkünstler wollte Johannes deswegen nicht werden: Obwohl er jetzt dick und kugelrund daherkam. Das Alleinsein und viele Fernsehgucken ließen ihn zur Leidenschaft verführen, Unmengen Chips und Süßigkeiten im wöchentlichen Wechsel zu verschlingen. Sein tägliches Bier trug er in Stofftaschen in die Dachwohnung nach oben. Für Kisten war er zu rund und schlaff. Schon auf dem ersten Treppenabsatz blieb ihm die Puste weg. Die verdammten Putzfrauen mit ihren Giftbrühen. Doch hungern, dass man am Ende am Magen vorbei zwar nicht die Zeitung lesen konnte, aber doch die Helle des gegenüberliegenden Fensters wahrzunehmen war. Sofort vielen ihm auch die anderen Verrücktheiten ein: Sich einmauern oder einfrieren lassen. Unter Wasser aushalten, auf einer Säule stehen, Dauerduschen... Bloß Sensationshascherei. Bei Hanns war das anders. Ernster. Todernst. Da wollte er schon lieber Luftkünstler sein. Mit der Luft kannte er sich aus. Ein- und Ausatmungskünstkler.

Johannes begann seine Strategie damit, dass er weniger ein- als ausatmete. Neben Energien und Wasser sollte es wohl auch zu einer Luftknappheit kommen. Mit der Zeit brachte es Johannes zu einer Kunstfertigkeit, immer nur noch die Hälfte einzuatmen. Ausatmen war angesagt. Wegen der Giftstoffe. Aus dem fernen Osten war ihm ausserdem bekannt, dass richtiges Ausatmen nicht nur lebensverlängernd ist. Kunstfertiges Ausatmen macht den Menschen frei zu ungeahnten Ebenen eines höheren Bewußtseins.
Nach Monaten harten Trainings brachte es der Alte zu einer solchen Meisterschaft, dass er innerlich total gereinigt, dafür äußerlich blass und kraftlos daherkam. Was ihn nicht beunruhigte, war er doch Wegweiser für viele, die ihm nacheifern würden. Und ihn endlich Johannes nennnen müssten. Oder doch wenigsten Hannsi mit nn.
Nach weiteren Wochen war er völlig entgiftet und entkräftet. Er kam aus dem Stubensessel kaum noch hoch. Den Friedhof wollte er sowieso verlassen. Bis zur Rente war nur noch eine kurze Wegstrecke. Atemstrecke. Luft nahm er nur noch, wenn unbedingt nötig und dann in kleinsten Zügen. Wie eine Wasserschildkröte den Kopf rausnimmt, um dann für lange Zeit unter Wasser zu bleiben.
Am Ende schloss er sich in seinem Dachzimmerchen ein. Und maulte nach Luft wie ein Fisch, den der Angler aufs Land geworfen hat. Den Umwohnenden war nichts aufgefallen.
Erst nach weiteren Wochen fand man ihn reglos. Er lag zusammengerollt auf dem Teppich mit heraushängender Zunge. Blauköpfig, tot. Durch den weit aufgerissenen Mund strömte Luft wie durch ein geöffnetes Fenster nach einem erlösenden Gewitterregen, nach tagelanger Schwüle.

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rupert - 26.04.2011 um 12:40 Uhr

finde ich gut. nichts zu meckern. tragisch und komisch. genau richtig abgeschmeckt.



raimund-fellner - 24.01.2013 um 20:19 Uhr

Liebe Vimana,

immerhin hat Hansi eine salonfähige Krankheit. Über Atembeschwerden lässt sich im Salon reden. (Weniger über Schizophrenie oder Zyklothymie.) Ich meine allerdings, dass die eigentliche Krankheit von Hansi nicht salonfähig ist, denn es handelt sich um eine psychische (seelische) Krankheit. Darüber lässt sich im Salon allerdings nicht reden.

In diesem Sinne

Raimund Fellner
www.raimund-fellner.de




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