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-- Prosa
--- Amok in der Fußgängerzone

ArnoAbendschoen - 20.09.2010 um 16:11 Uhr

Der turnusmäßige Besuch beim Vater stand an. Die Mutter brachte die zwei Scheidungswaisen bis an die Haustür des Exmannes. Der Summer ertönte, der Sechsjährige drückte die Tür auf, verschwand im Hausflur, gefolgt von seiner vierjährigen Schwester wie von einem Schatten.

Die Kinder fanden den Papa heute etwas komisch oder noch komischer als sonst. Merkwürdig, er wollte heute nicht mit ihnen zu Hause bleiben: "Wir fahren spazieren." Im Auto lagen hinten zwei Gasflaschen, wie der Junge vom Beifahrersitz aus staunend feststellte. Seine kleine Schwester drückte sich auf dem Rücksitz ängstlich in eine Ecke.

Es ging ins Stadtzentrum. "Papa, was machst du?! Wohin fahren wir?" Er war gerade von der Fahrbahn abgebogen und lenkte schon in die Fußgängerzone hinein. An ihrem Anfang liegt der Hauptplatz der Stadt, wo die Straßenbahnen und Busse abfahren und immer viele Menschen warten. Ihr Papa fuhr wieder und wieder auf Menschengruppen zu. Die Leute sprangen panisch zur Seite und schrieen, und es schrieen auch die Kinder im Auto. Sie pressten sich gegen die Scheiben und sahen die Menschen draußen flüchten.

Dann flogen Gegenstände durch die Luft: Fahrräder, die Stühle eines Straßencafés. Sie schlugen von drei Seiten auf der Karosserie auf und blieben auf den Steinplatten liegen. Ihr Papa fuhr jetzt Slalom um diese Hindernisse. Kurz darauf kam das Auto plötzlich vor einem Baum zum Stehen. Es war sofort von Passanten eingekreist. Einige zertrümmerten schon mit den Stühlen die Scheiben. Der Papa schrie außer sich: "Alles umfahren - alles umbringen!" Ein Mann griff jetzt durch das Loch in der Heckscheibe und schraubte hastig die offenen Ventile der Gasflaschen zu.

Die Polizei war schon zur Stelle. Sie räumte gerade den Platz. Bald war alles vorbei. Der Papa war auf dem Weg in die Psychiatrie. Die Kinder noch unter Schock und schon bald wieder bei der Mutter. Einer Passantin war das Auto über den Fuß gerollt.




JH - 21.09.2010 um 20:26 Uhr

Ich weiß nicht, ob der Text besonders geschrieben ist, oder es der Umstand ist, dass ich in Lörrach arbeite, warum mich der Text erschreckt. Wohl eher letzteres. Seit neuestem laufe ich nämlich deswegen. Der 16er Bus fährt genau an der Geburtsklinik vorbei. Einen Vorteil hat das Ganze: Mehr Polizeipräsenz - und Lörrach ist seither ein Problemfall.



ArnoAbendschoen - 21.09.2010 um 22:01 Uhr

JH, vielleicht überrascht es dich: Weder der Text an sich noch der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung haben etwas mit dem jetzigen Amoklauf in Lörrrach zu tun. Es handelt sich um die freie Nacherzählung eines authentischen Falles, der sich 2008 in einer deutschen Großstadt zugetragen hat. Ich schrieb ihn ca. Mai 2008.

Ich lege meistens einige Tage vorher fest, welche Texte ich wo veröffentliche. Vorigen Samstag notierte ich mir den Titel hier für Montag bei Versalia. Ich habe dann kurz gezögert und die von mir nicht beabsichtigte Aktualität doch in Kauf genommen.

Arno Abendschön




JH - 23.09.2010 um 18:38 Uhr

Amokläufe sind längst keine gesellschaftlichen Anomalien. Ein Text von 1959 tuts demnach auch.



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