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-- Politik & Gesellschaft
--- Sarrazin und die Freunde des Gerstensaftes
ArnoAbendschoen - 13.09.2010 um 22:23 Uhr
Der Bahnhof Berlin-Lichtenberg war zu DDR-Zeiten der heimliche Hauptbahnhof von Ost-Berlin. Heute fahren außer vielen S-Bahnen fast nur noch Regionalzüge von ihm ab. Dennoch hat er eine zeitgemäß und großzügig erneuerte Empfangshalle. Hier bekommt der reisende Mensch alles, wessen er bedarf: Blumen und Bücher, Fahrkarten und Fischstäbchen, Seife und – Sprit.
In der Halle stehen zu ebener Erde Wartebänke. Auf ihnen etabliert sich zuweilen recht diskret eine kleine Trinkerszene. Nun ja, der Herbst ist früh gekommen … Irgendwo müssen sie bleiben können. Ich dagegen muss nicht bleiben, finde nachher meinen Platz im Zug nach Müncheberg und gehe bis dahin auf und ab.
Ein anderes Mal, das Wetter hat sich gebessert, ist eine Bank zur Gänze frei. Also mit meiner Zeitung dort Platz genommen. Bald habe ich einen Nachbarn, einen mit Bierflasche. Er beäugt mich, während ich die Schlagzeilen überfliege. Gehöre ich dazu, zu seinem erweiterten Kreis? Dann trifft ein anderer ein, setzt sich zwischen uns in die Mitte. Die beiden kennen sich schon.
Sie reden über – na, über wen wohl? Sarrazin … Und er hat doch Recht … Natürlich hat er Recht … Das wird man doch noch sagen dürfen …
Auf einmal werden die beiden für mich durchsichtig und ich habe eine Szene aus den Siebzigern vor mir. Es hätten ihre Väter sein können. Allerdings war es in West-Berlin, in der U 7, und auch noch in Neukölln. Schon damals gab es Elend und Verelendete. Und die Lebenslügen, die den Verelendeten das Überleben erleichtern. Es saßen also zwei versoffene Subjekte auf einer Bank und es standen zwei in feinen Zwirn Gekleidete am Ende des U-Bahn-Wagens. Sie waren zwischen dreißig und vierzig und offenbar aus Südasien, vielleicht indische Wissenschaftler, die an einem Kongress teilnahmen. Falls es Architekten waren, könnten sie von Bruno Tauts Hufeisensiedlung gekommen sein. Sie stiegen bald aus oder um. Die beiden Einheimischen murmelten oder vielmehr zischten ihnen hinterher: Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg … Das war so absurd, dass es nicht mal mehr peinlich war.
Wie die Alten sungen, krächzen die Jungen. Ich würde ihnen jetzt am liebsten sagen: Hört ihn wenigstens zu Ende an, euren kleinen Thilo. Auch von euch ist ja bei ihm die Rede. Hört ihr: Ihr sollt euch nicht vermehren, das ist besser so für unser Land. Seiner Meinung nach.
Matze - 14.09.2010 um 16:30 Uhr
Eine schöner Kommentar zum Thema findet sich hier:
http://editiondaslabor.blogspot.com/2010/09/thilo-und-die-sarazenen.html
ArnoAbendschoen - 14.09.2010 um 17:38 Uhr
Danke, Matze, für den Hinweis. Der empfohlene Text überfliegt den konkreten Sachverhalt in ziemlich großen Höhen. Wem ist damit gedient?
In zweierlei Hinsicht finde ich die Argumentation dort auch angreifbar. Zum einen wird das Gespenst der Meinungskonformität beschworen. Gerade davon kann aber im vorliegenden Fall keine Rede sein - vgl. Umfragen und eine Vielzahl von Äußerungen pro und contra seitens Prominenter. Dass eine bestimmte Meinung in den Medien überwiegend vertreten wird, ist nicht von vornherein ein negatives Merkmal. Es kann ja auch sachlich begründet sein. - Zum anderen suggeriert der Text, die aufgeregte Diskussion wäre den speziellen deutschen Befürchtungen vor einem "Rückfall" geschuldet. Tatsächlich gehört sie in einen größeren europäischen Zusammenhang. Figuren wie Sarrazin kommen in der Gegenwart in den meisten europäischen Ländern vor, und nach meinem Eindruck ist im Ausland die Reaktion auf sie nicht weniger heftig als bei uns.
Ergiebiger als ein Rückgriff auf die kapitolinischen Gänse ist ein Vergleich der Gegenwart mit den sozialen und ökonomischen Verhältnissen in Europa um 1930. Ich sehe da viele beunruhigende Parallelen.
Arno Abendschön
Matze - 14.09.2010 um 18:01 Uhr
Herr Abendschön, durchaus sehr präzise beobachtet. Und leider doch nicht genau gelesen. Meinungskonformität ist bei den Konservativen durchaus Gegenstand des Aufstiegs.
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