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-- Prosa
--- Die Fliege und ich

ArnoAbendschoen - 01.07.2010 um 22:19 Uhr

Vor zehn Jahren bin ich zuletzt umgezogen. Beim Auspacken und Einräumen schwor ich mir: Ich will nie wieder wechseln. Ordnen Sie einmal tausend Bücher, die vollkommen unsortiert in Kartons gewesen sind, nach Sachgebieten und alphabetisch in Regale ein. Es kommt einer dreizehnten Herkulesaufgabe gleich.

Dann wurde ich nachdenklich: Ist es vielleicht tatsächlich das letzte Mal, dass du eine neue Wohnung beziehst? Bist du an der Endstation deines Lebens angekommen? Das war keine sehr angenehme Vorstellung. Sie passte allerdings zur Jahreszeit: Herbst.

Ich gewöhnte mich allmählich ein. Im Haus war es ungewöhnlich ruhig; der einzige Nachbar, ohnehin rücksichtsvoll, war meistens abwesend. Ich konnte die Stille förmlich sehen, riechen, schmecken. Und der Herbst schritt immer weiter fort.

Jene Fliege fiel mir schon bald nach dem Einzug auf. Es musste die letzte Fliege des Sommers sein, die sich in meine temperierte Wohnung gerettet hatte. Anfangs flog sie noch recht vital durch die Räume. Sie interessierte sich vor allem für meinen Speisezettel. Konfitüre fand sie unwiderstehlich. Ich verscheuchte sie. Sie kam zurück. Ich schlug nach ihr, ohne sie zu treffen. Es gelang mir nie. Allmählich kam es zu einer Koexistenz zwischen uns. Oder ist Kohabitation das rechte Wort?

Sie folgte mir von der Küche ins Wohnzimmer. Ich hörte Schuberts Vierte, und sie summte mir um die Stirn. Da ich Musik gewöhnlich nur mit Kopfhörer genieße, hörte ich sie nicht. Plötzlich fühlte ich sie an meiner Nasenwurzel. Ich bedeutete ihr, sich zu entfernen. Sie tat mir den Gefallen und erging sich zwischen den Zimmerpflanzen oder auf der Tischplatte.

Sie begleitete mich ins Schlafzimmer, unternahm Annäherungsversuche, als ich im Bett las. Wenn ich in der Nacht einmal die Lampe neben mir anknipste, entdeckte ich sie in der Nähe meiner Lagerstatt, an der Wand oder an der Zimmertür.

Es wurde noch herbstlicher, und wir gewöhnten uns immer mehr aneinander. Die Vorstellung, sie jedenfalls sei in ihre letzte Behausung übergesiedelt, begann mich zu beschäftigen. Hätte sie nicht längst tot sein müssen? Etwas wie Sympathie mit ihr und ihrem unausweichlichen Schicksal regte sich in mir. Ich verscheuchte sie nicht mehr, ließ sie auf meinen Händen und Armen krabbeln. Fliegen sind leichtfüßig. Sie kommen schnell voran, und dann verharren sie plötzlich lange an einem Punkt der Körperoberfläche. Ich registrierte es genau.

Wenn sie nicht zu mir kam, hielt ich nach ihr Ausschau. Sie wurde schwächer, müder. Ich kam auf die Idee, für sie zu sorgen. Bevor ich morgens zur Arbeit aufbrach, stellte ich ihr ein Glasschälchen mit Marmelade hin. Zwischenzeitlich erholte sie sich wieder, um dann noch schwächer zu werden. Sie verharrte jetzt die meiste Zeit an einem Punkt.

Sie hielt noch lange durch, weit über die ihr von der Natur bestimmte Zeit hinaus. Weihnachten war schon vorüber. Ob ich sie bis ins Frühjahr durchbringen würde? Aber mit einemmal war sie doch verschwunden. Soviel ich auch gesucht habe: Ich habe in jenem Winter nie eine tote Fliege bei mir finden können.




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