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-- Prosa
--- Schmidt und Hartmann
ArnoAbendschoen - 03.05.2010 um 10:50 Uhr
SCHMIDT UND HARTMANN
An diesem Tag stiegen sie nicht hoch hinauf. Schmidt und Hartmann blieben in der Waldzone und folgten einem meist eben dahinführenden Weg. Der Talgrund zu ihrer Rechten war nur zu ahnen, so dicht war der Wald. Nach zwei Stunden sahen sie auf dieser Seite, doch noch beträchtlich über dem Tal, eine Lichtung durchscheinen. Sie verließen den Weg und traten zwischen die Bäume am Waldrand. Da fingen weite Wiesenflächen an, und in ihrer Mitte entdeckten sie eine hier nicht vermutete Ansammlung von Gebäuden.
„Wir waren doch vorige Woche schon einmal hier in der Nähe - warum ist uns der Komplex nicht aufgefallen?" fragte Schmidt. - "Vielleicht waren wir abgelenkt.“
„Und alles einheitlich in Schönbrunner Gelb. Was mag es sein?"
Dann bemerkten sie die niedrige Umfassungsmauer und den großen, stark belegten Parkplatz davor.
"Das müssen wir uns näher ansehen", sagte Hartmann und ging schon über die Wiese los. Der gute Hartmann, dachte Schmidt, was er sich in den Kopf gesetzt hat, muss sogleich ausgeführt werden, so ist er nun mal. Schmidt folgte ihm in mäßigem Tempo. Hartmann strebte den Gebäuden immer rascher entgegen. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich.
Schmidt sah Hartmann gerade noch im Mauerdurchlass verschwinden, halb verdeckt von einer Gruppe von Touristen. Er ging nun auch schneller und vergaß dabei, auf die Tafel neben dem Eingang zu blicken. Dahinter fand er sich auf stark frequentierten Fußwegen wieder, die kreuz und quer durch einen halb französischen, halb englischen Garten um die vielen meist einstöckigen Gebäude herumführten. Hartmann musste schon weiter vorgedrungen sein, er sah ihn jetzt nicht mehr.
Wie sehr er sich in der folgenden halben Stunde auch bemühte, Hartmann wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Der Park war gleich bleibend belebt, ständig gingen Menschen in die Gebäude hinein oder kamen aus ihnen heraus. Es erschien Schmidt nicht zweckmäßig, auch eines zu betreten. Er vermutete, Hartmann selbst würde in jedem nur kurz verweilen. Unter freiem Himmel hatte man die bessere Übersicht.
Schließlich sah er ein, dass er Hilfe in Anspruch nehmen musste. Gab es hier vielleicht ein Informationsbüro? Er suchte gezielt danach und fand stattdessen einen Gendarmerieposten. Nun, das war in dieser Lage ebenso gut. Drinnen traf er wiederum viele Menschen an, die miteinander redend und dabei gestikulierend im Raum vor der Schranke herumgingen. Mit Mühe entdeckte er das Ende der Schlange der Petenten oder was sie sonst sein mochten. Schmidt brachte noch immer Geduld auf, stand endlich vor dem Tresen und sagte: "Hartmann ist verschwunden, das wollte ich melden."
"Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben? Dann beschreiben Sie den Herrn doch bitte einmal näher."
Nun geriet Schmidt allerdings in eine peinliche Verlegenheit. Es wollte ihm durchaus nicht gelingen, eine Personenbeschreibung von Hartmann abzugeben, die den Beamten befriedigt hätte. War Hartmann groß oder klein? Die Antwort darauf konnte nur relativ ausfallen. Schmidt sah sich um und wollte den abwesenden Hartmann mit den anwesenden Petenten vergleichen und kam in keinem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis. Er sagte also: "Eher klein, aber nicht allzu sehr." Ähnlich seine Antwort auf die Frage, ob Hartmann beleibt oder mager sei: "Ein wenig korpulent, doch noch in Grenzen." Und die Augenfarbe? Schmidt wollte schon passen - hatte er Hartmann je in die Augen gesehen? -, als ihm doch noch etwas einfiel, das ihm klug zu sein schien: "Irgendwie schillernd." Da brach der Beamte in Gelächter aus und schlug den Aktendeckel zu. Er sagte, er habe jetzt ohnehin Ablösung.
Eine weibliche Amtsperson nahm seinen Platz umständlich ein, brachte eine ganze Anzahl von Stempeln in die gehörige Ordnung und setzte dann die Einvernahme fort. Ihr Ergebnis war indessen für Schmidt unbefriedigend: "Es ist alles in bester Ordnung. In ein paar Tagen wird sich Ihr Hartmann wieder einfinden. So oder so."
Schmidt verließ die Gendarmerie - fürs Erste, wie er bei sich formulierte - und strebte aus dem ummauerten Bezirk hinaus ins Freie. Da drinnen konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dann stand er auf dem Parkplatz, der sich allmählich zu leeren schien. Erst jetzt bemerkt er die Haltestelle mit einem wartenden, abfahrbereiten Bus nach Rosenberg. In seinem Innern wurden Hinterköpfe sichtbar - wenn einer der von Hartmann war? Schmidt sprang durch die Mitteltür hinein und fing an, den Fahrgästen ins Gesicht zu sehen, zunehmend enttäuscht. Zwar wies dieser oder jener gewisse physiognomische Ähnlichkeiten mit dem Verschwundenen auf, doch gingen sie nie so weit, dass Schmidt zweifelsfrei hätte sagen können: Das ist Hartmann. Und schon schlossen sich die Türen, der verwünschte Bus fuhr talwärts ab.
Er betätigte sofort den Knopf für den Aussteigewunsch. Jedoch kam die erste Haltestelle erst nach zwei Kilometern, und als er hinauswollte, sprach ihn der Busfahrer über Mikrophon unverblümt an: "Ich glaube, Sie haben noch gar keinen Fahrschein!" Die Mitteltür, die sich schon einen Spalt geöffnet hatte, klappte wieder zu. Schmidt musste nach vorn zum Fahrer gehen und sich auf eine komplizierte Erörterung des für ihn ungünstigsten Fahrpreises einlassen. Heraus kam ein saftiger, ein eigentlich unverschämter Tarif für eine so kurze Strecke.
Niemals aufgeben! Schmidt hastete die Asphaltstraße zurück, wobei er fortwährend entgegenkommenden Fahrzeugen ausweichen musste. Wieder oben angekommen, fand er den Parkplatz vollkommen verwaist. Er ging noch einmal zur Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Das Ergebnis war sowohl ernüchternd als auch verwirrend: Ein einziger Bus ging an diesem Tag noch, allerdings nur bis Siebenhirten. Wo aber lag dieses Siebenhirten? Schmidt wusste es nicht.
Zögernd näherte er sich dem Parkeingang. Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Erst fiel sein Blick auf ein Fahndungsplakat an der Mauer. Ein Raubmörder war also in dieser Gegend hier vor Tagen entwichen, und nach dem wirklich abstoßenden Foto von ihm sah er unbestreitbar Hartmann nicht wenig ähnlich. Schmidt wurde jetzt durch ein gepanzertes Fahrzeug abgelenkt, das in den Park hineinfuhr, und zwar in raschem Tempo gerade bis zur Rückfront des Gendarmeriepostens. Er hörte, wie eine schwere Tür geöffnet wurde, er sah einen Mann in Handschellen zum Wagen geführt und in sein Inneres gestoßen werden. HARTMANN, HARTMANN ...! Schon vorbei, er hatte nicht einmal einen Blick ins Innere werfen können. Und im gleichen Augenblick sah Schmidt den letzten Bus, den Bus nach Siebenhirten wegfahren.
Der ganze Bezirk in Schönbrunner Gelb war jetzt menschenleer. Zwar gab es noch einiges zu entdecken, doch nichts davon brachte Schmidt noch einmal voran: ein Café, für heute schon geschlossen, ein Hotel, es hatte ohnehin Betriebsferien. Und die Dienststunden des Gendarmeriepostens waren vorüber. Kein Mensch, nirgendwo. Schmidt fröstelte allmählich, auch wegen der sich jetzt empfindlich bemerkbar machenden Abendkühle. Er strich noch einige Zeit durch den verlassenen Park. Zugesperrt alle Gebäude, bis auf eines: Beim Abtransport des Gefangenen war die Tür der Arrestzelle nicht wieder verschlossen worden.
Schmidt ging in die Zelle hinein, um dort den Morgen abzuwarten. Er saß auf der Pritsche, auf der Hartmann vor kurzem noch gelegen haben musste. Wenn es denn Hartmann gewesen war - eben daran begann er zu zweifeln. Er versuchte, sich das Gesicht von Hartmann in Erinnerung zu rufen. Doch es wollte ihm durchaus nicht mehr gelingen. Wer war eigentlich dieser Hartmann, wo war er hergekommen, wie gut hatte er ihn kennen gelernt? Schmidts Verunsicherung nahm immer mehr zu. Sie wurde umfassend, so vollkommen, dass er sich selbst nicht mehr kannte.
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