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-- Prosa
--- Grenzfälle
1943Karl - 13.04.2010 um 19:11 Uhr
Ich hasse Warten. Der Fernseher läuft. Irgendeine seichte Telenovela. Immer wenn ich hinschaue, wird auf dem Bildschirm geweint, geküsst oder umarmt.
Sonst hat Eva mir doch immer gesagt, zu welcher Zeit ich sie erwarten kann.
Natürlich will ich wissen, warum sie mit dem Alten mitgegangen ist. Es ist doch mein Recht, das zu wissen.
„Auch hier wachsen die Bäume nicht in den Himmel“. Der langhaarige Alte sah zu den schlanken Pappeln hinauf. Seine Stimme klang, als erwarte er ein besonders unverschämtes Gegenargument.
Da ich auf der Wiese vor dem Rheindeich Schiffen hinterhersehen, auf Eva warten und mich von der Büroarbeit entspannen wollte, drehte ich mich nicht zu ihm um. Ohne mich zu fragen, hatte er wenige Minuten zuvor neben mir seine alte graue Wolldecke ausgebreitet und sich umständlich und unter Stöhnen darauf gelegt.
„Ihr jungen Spinner, ihr kennt keine Grenzen. Sind in Europa alle offen. Mal was vom Eisernen Vorhang gehört? Wenn ihr träumt, dann doch immer nur von grenzenloser Liebe ohne Tabu.“ Seine Stimme überschlug sich.
Ich fuhr hoch. „Eigentlich warte ich auf meine Freundin. Will mit ihr in aller Ruhe ein bisschen braun werden. Und ganz so jung bin ich übrigens auch nicht mehr.“
„Rumliegen?! Ihr müsst dem Einhalt gebieten, verstehst du. Grenzen schützen die Heimat. Bald gibts keine Heimat mehr.“
Der Alte setzte sich auf, krempelte die Ärmel seines karrierten Hemds hoch, zog seine langen grauen Haare durch ein Loch zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und sah mich wütend an. „Nicht, dass ich Ordnungsfanatiker wäre, aber ohne Grenzen wird alles irgendwie immer gleicher... .“
Die Augen weit aufgerissen, den Kopf hochrot, fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum, als predige er einem uneinsichtigen Zweifler absolute Wahrheiten.
Ich winkte ab, legte mich wieder hin und wartete das Ende seines Wortschwalls ab.
Als er schwieg, hörte ich das Blubbern eines Schiffsmotors und blickte zum Rhein. Aber Eva stand mit ihrem Fahrrad vor mir, lachte und versperrte mir den Blick auf das Schiff, so dass ich nicht erkennen konnte, aus welchen Heimathafen es kam..
„Sie haben vielleicht einen uneinsichtigen Freund…!“ fuhr der Alte sie sofort an, wies mit dem Daumen über seine Schulter auf mich und verzog angewidert sein Gesicht.
Ich strich die Decke glatt, die ich für Eva neben mir ausgebreitet hatte, und lud sie ein sich hinzulegen. Sie zog schnell ihr T-Shirt und ihre Jeans aus, nahm die Decke, legte sich in schwarzer Bikinihose und knappem roten Top zwischen mich und den Alten.
Der sah einem Lastkahn hinterher und sagte laut: „Dietrich heiße ich, Dietrich Markowsky.“
„Eva Lahrmann.“ Sie lächelte. Der Alte schaute noch immer hinter dem Schiff her und knurrte: „Ihr Begleiter hatte es noch nicht mal nötig, sich vorzustellen.“
„Dazu sah ich bisher wirklich keine Veranlassung.“ Ich wunderte mich über meine förmlichen Worte. Eva blickte mich erstaunt an.
„Wenn der Herr es wünscht: Ich heiße Frank. Frank Flehmann.“
Der Alte grinste. „Komisch, kaum sind Frauen da, werden selbst jüngere Männer höflich.“ Er legte sich hin und tastete mit seinen Blicken Evas Körper ab bei längeren Zwischen-aufenthalten auf Busen und Schoß. „So’ne Frau hätte ich Ihnen ja gar nicht zugetraut.“
Eva drehte ihm den Rücken zu und grinste mich an. „So jemanden nennt man wohl einen alten Genießer. Oder?“
Ich nickte. „Elender Lustgreis, der.“
Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, richtete sich Markowsky wieder auf und sah mich wütend an. „Das könnt ihr. Über uns Alte herziehen.“
Ich holte tief Luft und atmete möglichst langsam wieder aus. „Herr Markowsky, wir möchten hier entspannen. Wir haben schließlich den ganzen Tag gearbeitet.“
„Wollen Sie damit sagen, ich hätte heute noch nichts getan. Ich weiß, ich weiß, eigentlich haltet ihr uns Rentner für überflüssige Kostgänger.“
Eva legte den Zeigefinger auf die Lippen und raunte mir zu: „Lass ihn.“
„Nein, nein, er soll sagen, was er über mich denkt, wenn er sich traut!“ Wieder zog Markowsky seine langen Haare durch das Loch zwischen Daumen und Zeigefinger, während ich mir vornahm, kein Wort mehr über noch gegen ihn zu verlieren.
Eva drehte sich langsam zu ihm um und blinzelte in die Sonne. „Wir werden uns doch wohl hier nicht gegenseitig den Nachmittag verderben?!“
Markowsky nickte und begann leise eine Melodie zu summen.
Eva musste lächeln und sagte leise zu ihm: „Kommt mir irgendwie bekannt vor!“
„Es wird in meiner Heimat gesungen. In Oberschlesien.“ Seine Stimme klang liebevoll. „Manchmal hab ich mit meiner Mutter im Sommer auf dem Oderdeich gesessen. Da haben wir zusammen gesungen.“ Er begann ein wenig lauter zu summen.
Ich kannte das Lied nicht. Eva summte leise mit.
Die Beiden hörten überhaupt nicht auf und summten immer neue Melodien.
Schließlich erhob ich mich, stieg den Deich hinauf und ging ein Stück stromaufwärts.
Als ich mich zum ersten Mal umdrehte, lagen Eva und Markowsky noch auf der Wiese.
Ich ging ein wenig schneller. Der Deich passte sich in einer weiten Kurve dem Flusslauf an. Als ich wieder einmal zurück blickte, sah ich sie nicht mehr und stieg auf der flussabgewandten Seite vom Deich herunter, setzte mich auf einen Baumstumpf und war sicher, dass Eva nachkommen würde.
Sie kam nicht. Ich stieg wieder auf den Deich und ging bis zu dem Punkt zurück, von dem ich Eva und Markowsky zuletzt gesehen hatte. Ich sah sie nicht und ging schneller.
Auf der Wiese lagen nur noch mein Fahrrad und die Decken. Eine für mich. Die andere für Eva.
Hastig stieg ich zurück auf den Deich. Eva und Markowsky entdeckte ich weder auf den Wiesen am Fluss noch auf der flussabgewandten Seite. Dort standen meinen Blicken allerdings einige Gehölze und Häuser im Weg.
Ich rollte die Decken ein, klemmte sie auf den Gepäckträger, schob mein Fahrrad den Deich hinauf, setzte mich auf den Sattel und fuhr auf der anderen Seite den Deich hinunter. Die Straße neben dem Deich war asphaltiert. Mit Rückenwind kam ich gut voran. Am ersten Haus stieg ich ab und las auf dem Namenschild: H. G. Schallmann.
Auch in den folgenden Häusern wohnte niemand namens Markowsky.
Das erstaunlich neue zweistöckige Haus, an dessen Tür sein Name stand, fand ich schließlich an der Dorfstraße neben der Kirche.
Auf mein Klingel öffnete mir eine jüngere Frau. „Machen Sie sich keine Sorgen, mein Vater schleppt immer mal eine Frau an. Meistens sind die irgendwie musikalisch. Ich bin nämlich vollkommen unmusikalisch, müssen sie wissen. Kommen Sie ruhig herein. Die Beiden sitzen am Harmonium.“
Die Frau führte mich ins Wohnzimmer. Weder Eva noch Markowsky blickten auf. Er spielte auf dem Harmonium. Eva sang laut ein mir unbekanntes deutsches Liebeslied, dessen Text sie offenbar auswendig kannte. Ich traute mich nicht, sie zu stören. Das Lied endete mit dem Refrain: Ich will bleiben und müsste gehn. Drei Mal.
Aus Verlegenheit klatschte ich Beifall.
Markowsy sah mich nicht an. Eva verneigte sich leicht in meine Richtung.
„Wieso bist du einfach verschwunden, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen“, fuhr ich Eva an.
Sie hatte feuchte Augen und zuckte mit den Schultern. Markowsky zog seine langen Haare zwischen Zeigefingern und Daumen hindurch und grinste: „Musik kennt keine Grenzen.“
„Unsinn!“ herrschte Eva ihn an, kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Ich wollte sie umarmen, aber sie hielt mir abwehrend beide Arme entgegen. „Ich würde gern noch ohne dich hier bleiben. Komme nachher zu dir. Doch nur, wenn du mich nicht fragst, warum ich mit Dietrich hierher gegangen bin. Ich weiß es sowieso nicht und will es auch nicht wissen.“
Am liebsten würde ich noch einmal zu Markowskys Haus fahren. Aber ich habe Angst, Eva und den Alten nicht mehr anzutreffen. Ich kann nur hier auf Eva warten
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