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zugast - 23.02.2010 um 18:10 Uhr

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Gratwanderer

Wie lange ich schon hier bin, weiß ich nicht. Man kann hier nicht richtig zählen.
Die Dinge sind nicht so unterschiedlich.
Ich glaube, hier gibt es auch keine richtigen Tage. Trotzdem ist vieles sehr schön.
Aber nichts wirft einen Schatten.
Man weiß auch nie, wann das Neue beginnt, denn das Alte vergeht nicht.
Früher war alles ganz genau. Man konnte sagen, das ist das und nichts anderes. Oder man sagte, das schmeckt so und dann war es auch so.
Das ist schon lange her.
Seit ich hier bin, verbringe ich viel Zeit mit den anderen. Sie sind sehr nett und haben sich gefreut mich kennen zu lernen.
Meistens bin ich mit einem Mädchen zusammen. Sie hat mich am Anfang getröstet, als alles noch neu war.
Ihre Haut ist schön wie Perlmutt, und ihre Stimme ist die eines Engels.
Wir sind oft in den weichen Zimmern. Man hat dort herrliche Träume.
Manche dauern ewig. Wir betreten sie manchmal gemeinsam: Die Luft wird tiefblau, uns begegnen schöne Geschöpfe und der helle Boden unter unseren Füßen wird zu sattem duftendem Gras.
Einmal erlebte ich die Geburt eines Nephalims, ein seltenes Wesen, das nur wenigen jemals begegnet. Er entstieg direkt vor mir dem Boden, breitete seine schwarzen Flügel aus und sah mich an. Dann berührte er leicht meine Wange.
Tiefe Trauer durchfuhr mich und meine Tränen nahmen beinahe kein Ende.
Durch seine Augen blickte ich bis auf den Grund der Welt. Überall strahlender Glanz.
Aber alles vergeblich.
Ich sah gigantische Sprites weit draußen in den dünnen Sphären der Welt. Wir entzündeten sie selbst, diese Chimären aus grellbuntem, gleißendem Licht.
Es sind die Wunderkerzen der Kinder, ein elektrischer Puls nur und ein Gruß an die Welt.
Wir senden die Lichter zu deinem Gedenken.
Damit du zurückdenkst an jenen Ort, als dich die Zeit noch umschloss wie ein Meer.
Als die Kindheit noch vor dir lag, ohne Atem, Gedanken und ohne Licht.

Wir besuchen Ufer und Quellen und zweifeln doch, ob wir besuchen, da wir von nirgends kommen. Und kehren wir um zu den andern, zerfließen die Quellen ins Nirgends, da wir von nirgendwo umkehrn.
Manchmal reise ich zu ersten Orten der Erinnerung, lege mich in frisch gemachte kühle Betten und höre an warmen Abenden dem Gezwitscher der Vögel zu.
Doch die Orte der Kindheit sind blass und die Abende schal.
Vor langer Zeit hatte ich, wenn meine Berechnung stimmt, genau wie du eine Mutter.
Ich weiß nicht, warum ich nicht mehr bei ihr bin. Meine Erinnerung verschwimmt mir.
Ach ja, ich hatte damals wohl noch einen winzigen Kopf.

Meine Mutter verlangte, ich solle wach bleiben und nicht einschlafen, aber ich war so müde und konnte die Augen kaum aufhalten und mir war schlecht.
,, Wieviele Tabletten hast du gegessen? ", fragte sie immer wieder.
Aber mein Mund war zum Antworten zu trocken und der Rotz klebte die Zunge fest.
Meine Mutter blickte aufgeregt umher.
Mein Vater schrie sie an:,, Hast du die Wespen rumliegen lassen?
Meine Mutter sagte, sie habe sie weggelegt. Das sei sicher. Doch dann kamen ihr wohl Zweifel.
Natürlich hatte sie sie weggelegt.
Ganz oben rechts in den Spiegelschrank. Hinter das Haarfärbemittel.
Wie viele Tabletten ich genommen hatte? Vier, glaub ich .
Vesperax war Mamas Elixier.
Ich hatte es vor ein paar Monaten zum ersten Mal probiert. Man brauchte nur ein bisschen und nach 20 Minuten federte es beim Gehen in den Beinen.
Dann durchströmte es angenehm warm den ganzen Körper.

Ich hab´s auch genommen, als ich in der Woche zuvor montags in die neue Klasse kam.
- Wegen des Umzugs.
Ob etwas gelingt, das entscheidet sich an Montagen.
Alle in der neuen Klasse waren sehr stilvoll. Die Jungen ganz besonders.
Einige haben sich über meine grüne Jacke lustig gemacht. Unpassend fanden sie die.
Besser vorsichtig sein.
Grün wird nicht gemocht.
Und alle lächelten ständig. Ich kann nicht so lächeln, oder besser gesagt, nicht so oft und auch nicht an den gewünschten Stellen.

Ein paar Tage nach meinem vierzehnten Geburtstag waren meine Eltern abends außer Haus.
Ich hatte Lust auf ein bisschen Kitzel und so drückte ich mir vier Tabletten aus der Packung. Dann zerteilte ich jede und schluckte die Stückchen einzeln mit Cola. - Um sie besser hinunter zu kriegen!
Alles ist nämlich eine Frage der Organisation.
Die Wirkung kam geballt: - Eine Flut warmer Daunen, die jede Stelle meines Körpers streichelte.
Irgendwann hörte ich dann die Stimmen meiner Eltern.
Mein Vater trug mich in unser Auto und zusammen fuhren wir dann los zur Klinik.
Es war kalt und der Scheibenwischer des Autos wusch immer nur kurz die vielen grellen Lichter klar, die dann verschwommen seitlich an uns vorbeirasten.
Meine Mutter sagte:,, Nun fahr doch, er ist so weiß". Dazu kratzte der Scheibenwischer, dass es bei jedem Winker in den Ohren piekste.
Mein Vater war ganz still.
Er hatte es vielleicht nicht gehört.
Plötzlich knallte es laut und wir wurden alle kurz nach vorn und dann wieder nach hinten geschleudert.
Mein Vater rannte aus unserem Auto nach hinten. Überall um uns herum waren helle, bunte Lichter und Geräusche, die mit dem Regen an der Scheibe herunter liefen.
Dann hupten die Autos so laut, dass es mir als Schmerz in den Kopf stach.
Die Stimme meines Vaters hinter uns brüllte.
Auch andere Stimmen waren hinter unserem Auto. Eine Frau und ein Mann schimpften und dann weinte die Frau.
Mein Vater stieg wieder zu uns in den Wagen und fuhr weiter. Seine Hände bluteten.
Meine Mutter war jetzt auch still.
Im Auto wurde es langsam warm und der Regen auf dem Autodach machte ein beruhigendes Geräusch. Alle Tropfen an den Scheiben zerplatzten und man konnte einen kurzen Moment durch sie hindurch die dunklen Menschen vor den hellen bunten Schaufenstern klar erkennen.
Es sah schön und feierlich aus.
Die Tropfen zerliefen dann schnell und wurden zu vielen winzigen Bächen, die keiner jemals zählen kann.
Und über allem hüllte das Brummen des Motors die ganze Stadt in Watte.
Ich bekam Lust als irgend jemandes Sohn eine Mutter oder einen Vater ungeduldig von Schaufenstern wegzuziehen, um ein Haus weiter erneut vor unbekannter Pracht stehen zu bleiben.
Die Ebene des Bürgersteigs wurde nun zu den Schaufenstern hin schief und die Auslagengucker mussten an Glas und Mauern halt suchen, um sich an den großen prächtigen Fassaden vorbei zu schieben.
War das nicht anstrengend?
,,Wir sind gleich da", sagte mein Vater.
Das Auto stoppte an der Ampel und ich sah, wie sich draußen ein dunkel gekleideter Mann zu uns drehte.
Winkte er mir?
Ein kleines Mädchen begleitete ihn.
Er hatte sie ganz leicht an der Hand.
Dann kam sie tänzelnd auf mich zu und hielt ihr Gesicht ganz dicht an die Scheibe.
Ich glaube sie lächelte.
Im zerfetzten gelben Licht der Ampel sah ich sie deutlich: Es war ein Totengesicht, das mich durch die Scheibe hindurch ansah.
Ich schrie und zeigte auf das Kind.
Doch meine Mutter weinte nur und mein Vater sagte: ,,Junge ich sehe nichts".
Der Wagen fuhr an und die Häuserwände auf beiden Seiten der Straße wuchsen hoch, da die Straße nach unten führte.
Dann bogen sich die Fassaden über den ganzen Himmel.
An einem tief gelegenen, hellen Eingang hielt mein Vater.
Dort legten sie mich auf das Rollbett und schoben mich immer steiler nach unten in einen engen Raum.
Hier standen große Leute in grüner Kleidung.
Sie schimpften mit mir und sagten, ich solle wach bleiben, wenn ich ein guter Junge sein will.
Ich hab es auch ganz ehrlich versucht, aber es ging fast nicht.
Dann waren sie doch noch nett zu mir. Ich bekam einen Schlauch in den Hals und zwei in den Arm.
Irgendwann schrien alle laut durcheinander und haben mich geschüttelt.
Mein Kopf wurde schlagartig riesig und wuchs ins Grenzenlose.
Seitdem kann ich hingehen, wohin ich will.
Nur meine Eltern hab ich nicht mehr gesehen.
Vielleicht leben sie jetzt woanders und haben einen neuen Jungen.
Dabei hatte ich sie so lieb.




zugast - 23.02.2010 um 19:10 Uhr

Oh, ich weiß gar nicht, ob das hier der richtige Ort war, eine Erzählung einzustellen. Sehe gerade, dass die anderen Beiträge alle sehr kurz sind.



psalmopoeus - 24.02.2010 um 20:47 Uhr

Schöne Geschichte.



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