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-- Aesthetik
--- blanc generation
Matze - 18.01.2010 um 15:23 Uhr
Zwischen dem so genannten 68-ern und den angeranzten Punks gibt es eine Generation zu entdecken, deren gemeinsamer Bezugspunkt die alte BRD ist.
Entgegen der Gewohnheit von Künstlern, sich als "Gruppe" zu definieren, ein "Generationenprojekt" ausrufen zu müssen und ein "Manifest" zu proklamieren, vergaß die „blanc generation“ (benannt nach einem Song von Richard Hell) jegliches kuratorische Wissen und öffnete sich neuen Lösungen. Was dabei herauskommt ist u.a. nachzulesen in der von Peter Ettl herausgegebenen Anthologie »Die inneren Fernen«. Obwohl unter den Zeltschrägen einer gemeinsamen Edition bilden die Lyriker der „blanc generation“ keine einheitliche Gruppe. Es gibt keinen gemeinsamen arspoeticagleichen Ansatzpunkt als den, Literatur anders einzuordnen, um schließlich eine Art literaturkritischer Mutation hervorzuzaubern. Eben durch die Verschiedenheit der Gedichte, durch die Unvereinbarkeit der gezielten Darlegungen und dank dieser Inkompatibilität werden die Autoren selbst zum Sinnbild der gegenwärtigen Lage der kulturellen Gesellschaft. Die Lyrik ist nie homogen, sie resultiert aus zahlreichen Stimmen und Stilen, die manchmal Berührungspunkte aufweisen, manchmal aber auch nicht.
Im 20. Jahrhundert versuchten die Autoren, sämtliche Regionen des Landes ausschöpfend zu beschreiben, nach dem 2. Weltkrieg folgte die modernistische Literatur, welche die plurale Identität der alten BRD entdeckte und sich andererseits darum bemühte, die Weimarer Traditionen wiederaufzunehmen. Die Lyriker der blanc generation sind so lebendig wie vielstimmig ist, sie schreiben keine Befindlichkeitstexte, leisten dafür aber sorgfältige Spracharbeit und schreiben poetisch souverän, welterfahren und vor allem eigenwillig. Die literarische Strömung des Regionalismus wirkt der Globalisierung entgegen, weil sie eine starke Bindung zu einer Örtlichkeit und einen Bezug zur Geschichte entwickeln. Die Antwort der Lyriker auf die Globalisierung liegt in der Anthologie »Die inneren Fernen« in der Vertiefung der eigenen historischen Wurzeln.
Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der mit gebrochenen Füßen in die Lüfte steigt, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin-de-siècle-belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden bzw. existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie etwa die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht.
Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muß die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, daß Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarisches Feldes. Es fällt auf, daß manche lyrische Innovationen der letzten Jahre aus dem Hinterland kommen, ob aus der Edition YE Sistig in der Eifel, der Landpresse in Weilerswist, der Edition Das Labor aus Bad Mülheim oder der Silver Horse Edition aus Marklkofen, ob Peripherie Zentrum oder Zentrum Peripherie ist, entscheiden die interessierten Leserinnen und Leser mit jedem neuen Gedichtband neu.
Mein Problem beginnt damit, daß sich die gebotene Vielfalt kaum würdigen läßt. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflußt die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Die Einzigartigkeit von Lyrik liegt, abgesehen von ihrer bestechenden Schönheit, in der Unkenntnis einer prosaischen Realität, die das Herzstück so vieler Bücher der Epoche ausmacht.
Das beste Beispiel für kritischen Regionalismus ist der Badenser Matthias Kehle. Dieser Lyriker hat eine Reife erreicht, daß er locker in seinen »Fundus« greifen kann. Kehle versenkt sich an oft ungewöhnlichen Erinnerungsorten tief ein in die Psyche des Badischen und entwirft dabei ganz nebenbei eine Kulturgeschichte der versunkenen BRD. Anwesend ist das Abwesende bei Kehle in der Bipolarität der unentzifferten Zeichen. Fesselnde Fiktion lebt vom Spezifischen, er kompiliert klug Zitate aus Forschungs- und Populärliteratur, Reportagen und historische Anekdoten. Als Flaneur entdeckt er auf neuen Wegen das Innere von Karlsruhe und Umgebung. Mit zergliederndem Blick beobachtet er Jogger und Fahrradfahrer. Daß ihm dabei jedes poetische Mittel recht ist und er selbstredend auch den Kalauer nicht verschmäht, demonstriert die Demut und völlige Dünkellosigkeit dieses Lyrikers. Für Proust bedeutet Erinnerung die Suche nach verborgenen Augenblicken des Glücks, für Kehle sind Erinnerungen gleichsam Sammellinsen für lyrische Stoffe. Dieser Lyriker ist ein Fraktalkünstler, das große Ganze setzt er aus eigenen Miniaturen zusammen und spiegelt ein lyrisches Ich in die Welt zurück.
Die Leser von Lyrik haben nicht den Eindruck einer Unvollständigkeit von Anthologien und einzelnen Büchern, sondern den der Unabschließbarkeit dieser Literaturgattung, die einem Leben und vor allem einem damit engvermählten Werk angemessen ist, die gleichermaßen durch ungewöhnliche Komplexität wie durch untergründige Verbindungen gekennzeichnet sind. Nachzulesen in den hervorragend ediertem Bänden der „Versnetze_. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart“. Jedes Jahr wählt Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus. So entsteht ein weit gespannter Überblick zur aktuellen Lyrik, und zugleich ergeben sich neue Perspektiven von experimenteller Poesie über Naturlyrik bis zur jungen Dichtung. Auf die Frage, ob man als Herausgeber von Lyrik-Anthologien ein Masochist sein muß, antwortet der Lyriker Axel Kutsch: »Im Prinzip nicht. Aber es bleibt kaum aus, daß man im Laufe einer langjährigen Herausgebertätigkeit zum Masochisten wird. Es spricht sich schnell in Deutschland herum, wenn irgendwo seriöse Anthologien ediert werden, also Sammelbände, bei denen die Autorinnen und Autoren sich nicht finanziell zu beteiligen brauchen und ebensowenig zu Mindestabnahmen genötigt werden. Und dann hagelt es schon bald Gedichte. Manche Einsender schicken wenige Texte, andere 40 bis 50, obwohl in einer Anthologie bestenfalls ein paar Beiträge pro Autor veröffentlicht werden können. Es ist dann auch haufenweise lyrischer Schrott darunter, für dessen Lektüre man eigentlich Schmerzensgeld erhalten müßtet. Aber als engagierter Herausgeber liest man alles bis zur letzten Zeile, ärgert sich, daß so viele Dilettanten sich offenbar für Dichter halten und legt den Kram ad acta: nicht verwendungsfähig. Ja, so wird man allmählich zum Lyrikmasochisten, in den Augen der Dilettanten wohl eher zum Sadisten, weil man von ihnen nicht mal einen Dreizeiler veröffentlicht. Allerdings bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man Jahr für Jahr lesenswerte und niveauvolle Anthologien füllen kann. Da kommt Entdeckerfreude auf, die für den vielen Schrott entschädigt.«
In seinem Band »Stille Nacht nur bis acht« verknüpft der Lyriker Axel Kutsch Assoziationen zu einem Bewußtseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene hervorholt, Träume realisiert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es ist diese offene Form des Schreibens, die ihn immer am meisten interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Vielleicht versteht man seine Gedichte am besten, wenn man als Lesemodell das Parodiekonzept Peter Rühmkorfs in Anschlag bringt, der postuliert hat, die Parodie müsse ihren Gegenstand dialektisch vorführen, ihn eben nicht nur ironisch in Frage stellen, sondern ihn auch aufheben, aktualisieren und somit weitertradieren. Darum scheint es auch diesem Lyriker zu gehen, wenn er sich den Charme, die Suggestivkraft und den poetischen Glanz dieser anachronistischen Sprache mit stupendem stilmimetischem Talent anverwandelt. Kutsch entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des Einzelnen.
Lyrik wäre nach allen ökonomischen Gesichtspunkten schon immer zum Aussterben verurteilt gewesen, und trotzdem hält sie sich nach wie vor, notfalls eben in der Form der Samisdat. In der Silver Horse Edition präsentiert Peter Ettl so unterschiedliche Lyriker wie Michael Arenz, Maximilian Zander, Michael Hillen, Christa Wisskirchen, Frank Milautzcki, Matthias Kehle, Axel Kutsch oder Theo Breuer. Die große Gabe von Theo Breuer, die ich in dessen Gedichtbänden »Nacht im Kreuz« und »Wortlos« erlebe, ist es, das, was ich lese, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in seinen Gedichten, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind - eine Art Triumph des Gedichts. Der Strippenzieher aus dem Hinterland über seine Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Peter Ettl:
„Als Peter Ettl 2006 mit dem Vorschlag an mich herantrat, einen Gedichtband in seiner neuen Lyrikreihe herauszugeben, reagierte ich zunächst abwartend. Ich hatte gerade die Herausgabe der Monographie »Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000« hinter mir, und mir war überhaupt nicht nach einem weiteren Buch. Ich bat um Bedenkzeit und schlug Axel Kutsch vor, bei dessen Band »Stille Nacht nur bis acht« ich das Lektorat übernahm. Das war gleichsam Initialzündung sowohl für meinen Band als auch die seitdem immer intensiver gewordene Zusammenarbeit, die 2009 in einen zweiten Band von mir in der Reihe mündete und die ich nicht mehr missen möchte. Peter Ettl ist ein gefühlvoller und zuverlässiger Herausgeber, in dessen katzenumsprungener Silver Horse Edition ich mich sauwohl fühle, zumal die Lyrikreihe von Band zu Band an Format und Profil gewinnt.“
Theo Breuer läßt es laufen, er überläßt sich den Worten, er improvisiert, das Kalkül kommt erst viel später ins Spiel. Souverän knüpft er damit in seinem Band »Nacht im Kreuz« an die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, stellvertretend sei „verinnerung an oskar p.“ genannt. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Moderne. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht. Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in seiner Lyrik, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind - eine Art Triumph der Literatur.
Ist Lyrik ›schwierig‹?
Als ein Genre, welches enger als jede andere literarische Gattung an Klang und Rhythmus von Sprache gebunden sind, sind Gedichte für den Laien bisweilen schwer zu be/greifen. Gedichte sind allerdings auch kein Kreuzworträtsel, welches es zu lösen gilt. Wirtschaftlich betrachtet, ist Lyrik per se glatter Unsinn, aber Betriebswirtschaft ist im Leben eben nicht alles. Und so haben Lyrikeditoren wie die Peter Ettls besonders schwer und besonders leicht zugleich: „Es ist halt alles relativ“, wie es in Ödon von Horvaths Stück »Italienische Nacht« immer wieder heißt.
Die Lektüre des zweisprachigen Bands »Inseln - Isole« zeigt, daß Peter Ettl mit wenigen Strichen literarische Bilder entwirft, von der Einsamkeit, der Auflösung des Individuums, vom Brachliegen aller erworbenen Fähigkeiten, von der Sehnsucht nach einem anderen Leben, aber auch vom Lebenswillen. Dieser Lyriker will, was alle Dichter wollen, die Conditio humana formal bewältigen und so momenthaft zu transzendieren und vergessen machen. Das Tröstende seines ästhetischen Spiels Versen offenbart sich nachdrücklich. Die verspielte Nonchalance und Unverkrampftheit hält er hoch. Seine Poesie ist die Kunst, auf jede Antwort noch eine Frage zu haben, alles Selbstverständliche unselbstverständlich werden zu lassen. Dieser Lyriker bewerkstelligt es, daß seine Gedichte Bewusstsein und Sendungsbewusstsein haben, daß sie sich fühlen, als hätten sie ein Selbst. Im Grunde handelt Ettls Lyrik stets auch von den anderen, um von sich selbst zu sprechen. Und dies vom Sehnsuchtsland rückgespiegelt zu bekommen hat seinen ganz eigenen Charme.
Die sogenannte Provinz ist keine literarische terra incognita, kein weißer Fleck in den Atlanten der Lyrik mehr. Die Bewahrung der Poesie gewinnt für die blanc generation in genau dem Moment einen historischen Sinn, in dem das Tragische seines Lebens und das der Geschichte miteinander verschmelzen. Dies ist nicht zuletzt nachzuvollziehen auf der von Michael Gratz in unermeßlichem Sammlerfleiß erstellten lyrikzeitung, die den umfassendsten Überblick über das lyrische Geschehen gibt. Gratzs Führung durchs Labyrinth der lyrischen Welt ist bewundernswert, und es fehlt dabei auch nicht an Hinweisen auf den intellektuellen Kontext, in dem sich das Leben, Denken und Dichten abspielt. Hervorragend ergänzt wird die lyrikzeitung von Andreas Heidtmanns stilvoll edierten Poetenladen. Als Herausgeber scheint er eine Art Universalpoesie im Sinn zu haben. Der Poetenladen soll weder in den Klappkasten der schöngeistigen noch der engagierten Literatur passen, hier spiegelt sich die deutschsprachige Gegenwartspoesie in all ihren Facetten und Spielarten. Nimmt man ergänzend den von Shafiq Naz edierten Lyrikkalender dazu, stellt man fest, daß wir in geistig in guten Zeiten leben, so aufregend war deutsche Lyrik seit dem Barock nicht mehr. Die fragilste der literarischen Formen gilt gemeinhin als deren teuerste, und dies im doppelten Sinn: Die Randständigkeit der Lyrik abseits des ökonomischen Gewinns steht in direkter Proportion zu der hohen symbolischen Wertschätzung, mit welcher man sie bedenkt. Lyrik scheint ein Gut zu sein, das zugleich sein eigener Marktpromoter ist. Wenn es gut geht, schafft sich Lyrik eine Gesellschaft, die bereit ist, sie am Leben zu erhalten.
Links:
http://www.silverhorseedition.de
http://www.poetenladen.de
http://lyrikzeitung.wordpress.com/
http://www.alhambrapublishing.com/
zugast - 28.02.2010 um 00:29 Uhr
Echt?
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