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-- Prosa
--- Langsame Annäherung

1943Karl - 07.12.2009 um 12:01 Uhr

Eigentlich ist Alfred Hassler nur ein harmloser Umweltbeobachter, der das Leben von Menschen mit Blicken in sich hineinsaugt und ihnen stattdessen ein anderes Leben zudenkt.
„Zwischen Geborgenheit und Freiheit liegt das weite Land der Sehnsucht.“ Lautlos singt er diese Zeile. Immer wieder und wiegt dabei den Kopf leicht hin und her.
Seit Tagen hockt er hier am Kreisverkehr auf der Bank, die sich mit Messingschild als Spende der Kreissparkasse ausgibt. Bis nach Sonnenuntergang deutet er die Gesten der vorbeigehenden Leute, ihren Gesichtsausdruck, ihre Handlungen und stattet sie mit Abenteuern aus.
Erst vorgestern wurde Alfred Hassler sechsundsechzig, litt im Vorjahr noch unter einem der uninteressantesten Beamtenjobs, den das Einwohnermeldeamt der Stadt Bergisch Gladbach zu vergeben hatte. Seit zwanzig Jahren lebt er in einer der langweiligsten aller deutschen Städte und liest täglich Zeitung. In der Beilage Bergisches Land, wird über jeden Unfall berichtet, über jeden Einbruch und kürzlich, als ganz besonderer Skandal über den Aufbruch eines Kondomautomaten im Toilettenvorraum des größten Brauhauses am Ort. Wer unter so viel Sexdruck leidet, sollte immer genügend Kleingeld bei sich haben, empfahl der Zeitungskommentator. Und ein Leserbriefschreiber, der sich über die frühreife sexsüchtige Jugend erregte, verdächtigte einen sehr jungen Mann ohne Ausbildungsplatz, dem am Monatsende vermutlich das Taschengeld für das erste Mal ausgegangen sei.
Alfred, Alleinunterhalter mit typisch rheinischem Humor, war einst in Kneipen und auf öffentlichen Bänken von zahlreichen Lachern umgeben. Seit einigen Jahren bleibt er allein.
Im letzten Monat ging er dazu über, vor Hochhaus-Türen zu warten. Kam einer der Bewohner, schlüpfte er mit ihm ins Haus, fuhr im Fahrstuhl ins oberste Stockwerk, stieg aus und suchte sich am Ende des langen Flurs einen Fensterplatz.
Je länger er aus dem Hochhausfenster hinunter sah, umso mehr gewöhnte er sich an das mulmig-kitzelige Gefühl im Unterbauch, hätte am liebsten das Fenster geöffnet, wäre laut lachend auf das Fenstersims gestiegen und abgeflogen. Doch die Flurfenster der oberen Etagen waren nicht zu öffnen.
Wenn er am späten Abend allein und unbeachtet am Fenster stand, sprühte er mit roter Farbe „Flugverbot für Alfred“ auf die Scheibe, um danach sofort das Hochhaus durch die Erdgeschosstür zu verlassen. Tage später fuhr er in einem anderen Hochhaus mit dem Lift hinauf und sprühte erneut.
Als er schließlich in der Zeitung vom unbekannten Hochhaussprayer namens Alfred las, lachte er. Leserbriefschreiber zeigten allerdings kein Interesse für Sprayer Alfred.
Jetzt sitzt er wieder auf der Bank am Kreisverkehr. Der bärtige Alte in weiter Hose und mit weißer Wollmütze auf dem Türkenkopf kommt quer über die Mitte des Kreisverkehrs, geht am Stock und träumt als Moslem wahrscheinlich schon seit ein paar Jahren von himmlischen Jungfrauen, die bereits im Jenseits auf ihn warten.
Alfred ist weder Sympatisant radikaler Religionsrichtungen noch verfügt er über Erfahrungen mit Sprengstoff und Zündmechanismen. Und ein altes Auto besitzt er ebenso wenig, um es hier an dem viel befahrenen Kreisverkehr zu parken und sich mit ihm in die Luft zu sprengen. Zudem ist hier ohnehin überall absolutes Halteverbot.

Alfred summt und wiegt den Kopf. Zwischen Geborgenheit und Freiheit liegt das weite Land der Sehnsucht.
Schnaufend bleibt der bärtige alte Türke vor ihm stehen, blickt ihn aus wässrigen Augen an. Seine große gerötete Nase hat ungewöhnlich tiefe Poren. Lächelnd stößt er den Stock auf das Pflaster vor sich und geht weiter.
„Warte!“ Alfred springt auf. Langsam dreht sich der Alte um, lässt seine Augen von Alfreds Kopf bis zu seinen Füßen hinabgleiten, wendet sich ab und will davonschlurfen.
„Bleib stehen!“ Alfred baut sich vor dem alten Türken auf. „Hör zu, ich hab nichts gegen Moslems. Überhaupt nichts! Aber ich hab was gegen Selbstmordattentäter.“
Der Alte hebt langsam den Kopf. Sieht ihm blinzelnd in die Augen. Wortlos. Abwartend.
Setzt Alfred plötzlich die Spitze seines silberbeschlagenen Stocks auf die Brust.
Alfred schlägt den Stock zur Seite. Der Alte fällt auf ihn zu. Alfred fängt ihn auf, stemmt sich gegen dessen Brust, stellt ihn auf die Füße und sieht ihn lauernd an. „Der Tod bleibt für alle ein Unbekannter. Und was danach kommt, wüssten wir wohl gern.“
Der Alte zuckt mit den Schultern, lächelt und reicht ihm die Hand. „Mein Freund. Viel Glück!“
Alfred greift nach der Hand und murmelt. „Zwischen Geborgenheit und Freiheit, vielleicht.“
Der Alte klopft ihm auf die Schulter. „Das Leben auch ohne uns geht weiter.“ Er blickt Alfred in die Augen, stapft quer über den Kreisverkehr und verschwindet in der Einbahnstraße , die zum Bahnhof führt.




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